13.10.2022

Warum Jazz swingt

Physiker untersuchen mit Experimenten und Datenanalysen über 450 berühmten Jazz-Soli.

Jazz muss Swingen – da sind sich Jazz­musiker einig. Uneinig ist man sich jedoch auch nach hundert Jahren noch, was genau das Swing-Feeling ausmacht. Mit einem gezielten Experiment und Daten­analysen an über 450 berühmten Jazz-Soli haben Physiker des MPI für Dynamik und Selbst­organi­sation zusammen mit Psychologen der Uni Göttingen ein Geheimnis des Swing entschlüsselt. Sie konnten nachweisen, dass bestimmte systema­tische Abweichungen im Timing entscheidend zum Swing Feeling beitragen. Diese zeitlichen Abweichungen sind so gering, dass sie auch von profes­sio­nellen Jazz­musikern nicht explizit wahr­genommen, sondern nur unbewusst einge­setzt werden.

Abb.: Daten­analyse der mitt­leren Down­beat-Ver­zöger­ungen...
Abb.: Daten­analyse der mitt­leren Down­beat-Ver­zöger­ungen (ent­spre­chend Phasen­ver­schie­bungen) in ms von 456 be­rühm­ten Jazz-Soli als Funk­tion des Tempos in bpm. Mit wenigen Aus­nah­men zei­gen sich po­si­tive Ver­zö­ge­run­gen, deren Größe mit wach­sen­den Tempi ab­nimmt. (Bild: C. Nelias et al. / Springer Nature)

„What is this thing called Swing?“ fragte bereits Louis Armstrong in einem seiner Songs. Der Begriff wurde von Jazz­musikern einge­führt, um eine spezifische Spielweise zu bezeichnen, die sie für wesentlich halten. Obwohl das Swing-Feeling eines der wichtigsten Merkmale des Jazz ist, wurde lange Zeit geglaubt, man könne Swing zwar fühlen, aber nicht erklären. Lediglich die Abfolge von verschieden lang gespielten Achtel­noten, „Downbeats“ und „Offbeats“, ist ein leicht hörbarer Bestand­teil des Swing. Diese Eigenschaft allein ist aber nicht ausreichend für den Swing, wie Jazz­musiker wissen. Sie kann sogar am Computer generiert werden. So stellt sich die Frage, welche weiteren Bestand­teile den Swing ausmachen.

Seit den 1980er Jahren wurde in der Wissenschaft vermutet, dass das Swing-Feeling durch minimale zeitliche Abweichungen, die Microtiming Deviations, zwischen den Instru­menten erzeugt wird. Dem gegenüber betonten andere Wissenschaftler die Notwendig­keit der rhythmischen Präzision. Zur Klärung dieser Frage entwarf das Forschungs­team ein Experiment, in welchem es das Timing in Original­auf­nahmen von Pianisten auf verschiedene Weise am Computer manipulierte. In diesen manipu­lierten Aufnahmen wurde anschließend die Stärke des Swing-Feelings von profes­sio­nellen und semi­profes­sio­nellen Jazz­musikern bewertet. In einer ersten Studie konnte das Team so nachweisen, dass zufällige zeitliche Abweichungen von Solisten nicht zum Swing-Feeling beitragen, sondern es sogar vermindern können.

In ihrer neuen Studie unter­suchten die Wissen­schaftler nun den Einfluss verschiedener systema­tischer Abweichungen zwischen Solisten und Rhythmus­gruppe auf das Swing-Feeling. Sie fanden beispiels­weise heraus, dass eine gleich­mäßige Verzögerung von Downbeats und Offbeats der Solisten das Swing-Feeling nicht verstärkt. Dagegen wurde es erheblich verstärkt, wenn lediglich die Downbeats gleichmäßig um etwa dreißig Milli­sekunden verzögert wurden, während die Offbeats der Solisten synchron zur Rhythmus­gruppe blieben. Somit wurden Downbeat Verzöge­rungen als eine Ursache des Swing Feelings identi­fi­ziert.

„Die professio­nellen Jazz­musiker und -musikerinnen, die wir am Ende des Experiments explizit danach gefragt haben, konnten zwar Unterschiede hören, aber diese minimalen Abweichungen nicht identi­fi­zieren" erklärt Theo Geisel, der Leiter des Projekts. Es stellte sich somit die Frage, ob der von verzögerten Downbeats erzeugte Effekt überhaupt von Jazz­musikern genutzt wird.

Um das zu überprüfen, führte das Team Daten­analysen an mehr als 450 Soli berühmter Jazz­musiker durch. Es stellte sich heraus, dass Downbeat-Verzögerungen tatsächlich in fast allen Fällen eingesetzt wurden. „Diese subtile Methode das Swing-Feeling zu erzeugen, wird offenbar von Jazz­musikern nur unbewusst genutzt. Der Effekt selbst war ihnen nicht bekannt“, fasst Geisel zusammen. Ein Jahr­hundert nachdem Musiker wie Louis Armstrong und Duke Ellington die Bühne betraten, wird so ein Stück weit klarer, was genau das Swing Feeling ausmacht.

MPI-DS / RK

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