12.05.2021

Pandemien präventiv eindämmen

Epidemiologische Analysen zeigen, wie wichtig gutes Timing bei den Maßnahmen ist.

Ein Team von Strömungs­physikern am Institute of Science and Technology Austria (IST Austria) unter der Leitung von Björn Hof berichtet, dass schon kleine Unterschiede im Maßnahmen­paket gegen Epidemien einen Sprung in den Infektionszahlen verursachen können. Die neue Studie in Kooperation mit Marc Timme der TU Dresden zeigt, dass die Limits des Testens und der Kontaktverfolgung für plötzliche Sprünge im Epidemie­verlauf verantwortlich sind. Testen gefolgt von Contact Tracing ist bei der Bekämpfung von Epidemien äußerst effizient, sobald aber ihre Kapazitäten erschöpft sind, beschleunigt sich die Epidemie zu einer exponentiellen Ausbreitung.

 

Abb.: Der Strömungs- und Turbulenz­physiker Björn Hof und sein Team wendeten...
Abb.: Der Strömungs- und Turbulenz­physiker Björn Hof und sein Team wendeten die statistischen Methoden auf epidemische Infektions­zahlen an und entdeckten über­raschende Eigenschaften. (Bild: IST Austria / N. Poncioni)

Was hat Strömungsphysik mit der Ausbreitung des Corona-Virus zu tun? Whirlpools und Pandemien scheinen ziemlich unterschiedliche Dinge zu sein. Doch die neuesten Erkenntnisse über die Ausbreitung von Epidemien kommen von Björn Hof und seiner Forschungs­gruppe am Institute of Science and Technology Austria (IST Austria), die sich auf Flüssigkeiten und turbulente Strömungen spezialisiert haben. Als Hof Anfang letzten Jahres seinen geplanten Besuch in Wuhan, der Heimatstadt seiner Frau, absagen musste, verlagerte sich sein Fokus schlagartig auf die Ausbreitung von Epidemien.

„Meine Gruppe untersucht normalerweise turbulente Strömungen in Rohren und Kanälen“, erklärt er. „In den letzten zehn Jahren haben wir gelernt, das Auftreten von Strömungs­turbulenzen mit statistischen Modellen zu beschreiben, die gleichermaßen zur Beschreibung von Waldbränden und Epidemien verwendet werden.“ Angesichts der Erfahrung war die Programmierung eines Epidemie­modells für Burak Budanur, den Theoretiker und Computer­experten der Gruppe, keine schwere Übung.

Modellierungen von Epidemien legen nahe, dass die Stärke der Vorkehrungen einen kontinuierlichen Effekt auf das Maximum der Ausbreitungs­zahlen hat. „Die Erwartung ist, dass die Kurve gemäß dem Grad der sozialen Distanzierung abflacht“, sagt Davide Scarselli, Erstautor der Arbeit. Als er jedoch die Epidemie simulierte und dabei gezielt die endlichen Ressourcen bei Testungen und Kontakt­verfolgung berücksichtigte, ergab sich ein ganz anderes Bild. Das Maximum der infizierten Personen nahm zunächst wie erwartet ab, brach dann aber plötzlich auf fast Null zusammen, als die Eindämmung einen bestimmten Schwellenwert überschritt. In einem Fall infizierte sich etwa die Hälfte der Menschen während der Epidemie. In dem anderen Fall erkrankten nur drei Prozent. Überraschender­weise war es unmöglich, ein Ergebnis zwischen diesen beiden Ergebnissen zu erhalten: Entweder gibt es einen Ausbruch von beträchtlicher Größe, oder es gibt fast gar keinen.

Das Testen von bekannten Kontaktpersonen eines Infektionsfalls ist eine der wirksamsten Möglichkeiten, eine Epidemie zu verlangsamen. Allerdings ist die Anzahl der Fälle, die jeden Tag aufgespürt werden können, begrenzt, ebenso wie die Anzahl der Testungen, die durchgeführt werden können. Wie die Forscher herausfanden, hat das Überschreiten dieser beiden Grenzen während der Epidemie weitreichende Konsequenzen. „Wenn das passiert“, sagt Timme, „beginnt sich die Krankheit in den unkontrollierten Gebieten schneller auszubreiten und das führt unweigerlich zu einem super­exponentiellen Anstieg der Infektionen.“ Schon exponentielles Wachstum ist immens. Es bedeutet eine Verdoppelung der Infektionen alle paar Tage. Über­exponentiell bedeutet aber, dass auch die Rate der Verdopplung immer schneller wird.

Solange diese Beschleunigung vermieden werden kann, liegen die Ansteckungs­kurven auf einem niedrigen Niveau. Interessanter­weise macht es relativ wenig aus, wie groß der „Sicherheits­polster“ bei den Kapazitäten des Contact Tracings sind. Die Zahlen bleiben vergleichsweise niedrig. Wird der Grenzwert dagegen nur durch einen einzigen Fall überschritten, führt das super­exponentielle Wachstum dazu, dass die Gesamt­fallzahlen auf das Zehnfache ansteigen.

„Wie die meisten Nationen hat auch Österreich nicht frühzeitig auf die zweite Welle reagiert. Nachdem im vergangenen September nicht mehr alle Kontakt­personen nachverfolgt werden konnten, war es abzusehen, dass die Fallzahlen bald überproportional ansteigen würden“, sagt Scarselli. Im Laufe des letzten Jahres hat sich jedoch gezeigt, dass eine frühzeitige und entschlossene Reaktion unerlässlich ist, wenn man mit einem exponentiellen Wachstum konfrontiert ist. Die Studie des Teams zeigt, dass begrenzte Testkapazitäten das Timing noch entscheidender machen. Der Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg eines Lockdowns ist minimal, oder wie Budanur es ausdrückt: „Eine Maßnahme, die gestern noch funktioniert hätte, braucht nicht nur viel länger, um ihre Wirkung zu entfalten, sondern kann auch komplett scheitern, wenn sie einen einzigen Tag zu spät umgesetzt wird.“ Hof ergänzt: „Die meisten europäischen Länder reagieren erst, wenn die Kapazitäten der Intensiv­medizin bedroht sind. Eigentlich müssten die politischen Entscheidungs­träger auf ihre Kontakt­verfolgungs­teams achten und abriegeln, bevor dieser Schutzschild zusammenbricht.“

Zuletzt hat sich die Forschungs­gruppe mit optimalen Strategien beschäftigt, bei denen Lockdowns als präventives Werkzeug und nicht als Notbremse eingesetzt werden. Ein Forschungs­papier, das die optimale Strategie skizziert, um sowohl die Anzahl der infizierten Personen als auch die benötigte Lockdown-Zeit zu minimieren, ist derzeit in Arbeit.

IST Austria / DE

 

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