07.07.2023 • Materialwissenschaften

Maschinelles Lernen leitet neue Ära in den Materialwissenschaften ein

Deep-Learning-Ansatz ermöglicht genaue Berechnungen der elektronischen Struktur in großem Maßstab.

Die Anordnung von Elektronen in Materie, also die elektronische Struktur, spielt nicht nur in der Grund­lagen­forschung eine entscheidende Rolle, sondern auch bei angewandter Forschung wie dem Arznei­mittel­design oder der Energie­speicherung. Bislang fehlten jedoch Simulations­methoden, die sowohl eine hohe Genauigkeit als auch Skalier­bar­keit über verschiedene Zeit- und Längen­skalen hinweg bieten. Forscher des Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossen­dorf und der Sandia National Laboratories in den USA haben jetzt eine auf maschinellem Lernen basierende Simulations­methode entwickelt, die herkömm­liche Verfahren zur Simulation elektronischer Strukturen übertrifft. Ihr Softwarepaket „Materials Learning Algorithms“, kurz MALA, ermöglicht den Zugang zu bisher uner­reichten Längen­skalen.

Abb.: Moment­auf­nahme einer Deep-Learning-Simu­la­tion mit mehr als 10.000...
Abb.: Moment­auf­nahme einer Deep-Learning-Simu­la­tion mit mehr als 10.000 Beryllium­atomen. Die Ver­tei­lung der Elek­tronen in diesem Material wird als rote (de­loka­li­sierte Elek­tronen) und blaue (Elek­tronen in der Nähe der Atom­kerne) Punkt­wolken dar­ge­stellt. (Bild: HZDR)

Die quanten­mechanischen Wechsel­wirkungen von Elektronen unter­ein­ander und mit den Atomkernen sind verantwortlich für eine Vielzahl von Phänomenen in der Chemie und den Material­wissen­schaften. Verständnis und Kontrolle der elektro­nischen Struktur der Materie geben Aufschluss über die Reaktivität von Molekülen, die Struktur von Planeten und den Energie­transport in ihnen sowie über die Mechanismen bei Material­versagen.

Wissenschaftliche Heraus­forderungen werden immer häufiger durch computer­gestützte Model­lierung und Simulationen angegangen, wobei hier die Möglich­keiten des Hoch­leistungs­rechnens voll zum Tragen kommen. Für realistische Simula­tionen mit Quanten­präzision fehlte allerdings ein vorher­sagendes Simulations­verfahren, das hohe Genauigkeit mit Skalier­barkeit über verschiedene Längen- und Zeitskalen kombiniert. Klassische atomistische Simulations­methoden können zwar große und komplexe Systeme handhaben. Da sie die elektro­nische Quanten­struktur nicht berück­sichtigen, ist ihre Anwend­barkeit jedoch einge­schränkt.

Umgekehrt bieten Simulations­methoden, die im Gegensatz zur empirischen Model­lierung ausschließlich auf Grundlage analytischer Formeln arbeiten, ab-initio-Methoden genannt, eine hohe Genauigkeit. Sie sind aber rechen­intensiv. Die Dichte­funktional­theorie DFT, eine weit verbreitete ab-initio-Methode, skaliert beispiels­weise kubisch mit der Systemgröße. Das beschränkt diese Methode auf kleine Skalen.

MALA integriert maschinelles Lernen mit Ansätzen aus der Physik, um die elektro­nische Struktur von Materialien vorher­zusagen. Es verwendet einen hybriden Ansatz, bei dem eine etablierte Methode des maschinellen Lernens, das Deep Learning, zur genauen Vorhersage lokaler Größen eingesetzt wird. Die Vorher­sagen werden dann durch physika­lische Algorithmen zur Berechnung relevanter Eigen­schaften genutzt.

Das Softwarepaket nimmt die Anordnung der Atome im Raum als Eingabe und erzeugt Bispektrums­komponenten, die die räumliche Anordnung dieser Atome um einen Punkt im Raum kodieren. Das maschinelle Lernmodell in MALA wird trainiert, um die elektronische Struktur auf der Grundlage der Nachbarschaft der Atome vorher­zusagen. Ein wesentlicher Vorteil von MALA ist die Fähigkeit seines maschinellen Lernmodells, unabhängig von der Systemgröße zu sein. Es kann daher auf Daten von kleinen Systemen trainiert und danach in jeder Größen­ordnung eingesetzt werden.

Die Wissenschaftler konnten die bemerkens­werte Effizienz dieser Strategie zeigen. Im Vergleich zu herkömm­lichen Algorithmen erreichten sie bei kleineren Systemen von bis zu einigen Tausend Atomen eine mehr als tausendfache Geschwin­digkeits­steigerung. Darüber hinaus demonstrierten sie, dass MALA in der Lage ist, elektronische Struktur­berechnungen in großem Maßstab mit mehr als 100.000 Atomen durch­zu­führen. Letzteres gelang mit einem über­schau­baren Rechen­aufwand, was die Begrenzungen herkömm­licher DFT-Codes verdeutlicht.

Mit zunehmender Systemgröße und mehr beteiligten Atomen werden DFT-Berechnungen unpraktikabel, während der Geschwin­dig­keits­vorteil von MALA immer größer wird. „Der entscheidende Durchbruch bei MALA ist die Fähigkeit, mit lokalen Atom­umgebungen zu arbeiten“, erläutert Attila Cangi vom HZDR. „Das ermöglicht genaue numerische Vorhersagen, die von der Systemgröße nur minimal beeinflusst werden. Diese bahn­brechende Errungen­schaft eröffnet Berechnungs­möglich­keiten, die früher als unerreichbar galten.“

Cangi hat sich zum Ziel gesetzt, durch den Einsatz von maschinellem Lernen die Grenzen der elektro­nischen Struktur­berechnung zu erweitern. „Wir verfügen nun über eine Methode, mit der wir wesentlich größere Systeme mit einer beispiel­losen Geschwindigkeit simulieren können“, so der Forscher. „Ich erwarte, dass MALA einen Umbruch einleiten wird, wie elektronische Strukturen berechnet werden. Die Forschung wird künftig in der Lage sein, ein breites Spektrum gesell­schaft­licher Heraus­forderungen auf Basis einer deutlich verbesserten Ausgangslage zu bearbeiten: von der Entwicklung neuer Impfstoffe und neuartiger Materialien für die Energie­speicherung über groß angelegte Simulationen von Halbleiter­bauelementen und der Untersuchung von Material­defekten bis hin zur Erforschung chemischer Reaktionen zur Umwandlung von klima­schädlichem Kohlendioxid in klima­freundliche Mineralien.“

Darüber hinaus eignet sich der MALA-Ansatz besonders für das Hoch­leistungs­rechnen HPC. Mit zunehmender Systemgröße ermöglicht MALA eine unabhängige Verarbeitung auf dem von ihm genutzten Rechengitter, wodurch HPC-Ressourcen, insbesondere Grafik­prozessoren, effektiv genutzt werden. Der MALA-Algorithmus für elektronische Struktur­berechnungen lässt sich gut auf modernen HPC-Systemen mit verteilten Beschleunigern anwenden. „Die Fähigkeit, Rechenprozesse zu zerlegen und sie auf verschiedenen Gitter­punkten über verschiedene Beschleuniger hinweg parallel auszuführen, macht MALA zu einer idealen Lösung für skalierbares maschinelles Lernen auf HPC-Ressourcen“, betont Siva Rajamanickam von den Sandia National Laboratories. „Dabei werden eine beispiel­lose Geschwindigkeit und Effizienz bei der Berechnung elektro­nischer Strukturen erreicht.“

HZDR / RK

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