13.02.2023

Hans Jensen: Der Entzauberer der Kernzahlen

Der Physik-Nobelpreisträger und Mitentdecker des Kernschalenmodells Hans Jensen starb vor 50 Jahren in Heidelberg.

Es war das erste Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, dass Hans Jensen ans Niels-Bohr-Institut in Kopenhagen zurückkehrte. Hungrig nach internationalen Fachzeitschriften, stieß er 1948 auf eine Publikation von Maria Goeppert-Mayer, die experimentelle Beweise für die „magischen Zahlen“ brachte. „Das machte mir Mut, in einem theoretischen Seminar über ihre Arbeit und unsere Ergebnisse zu sprechen“, erinnert sich Jensen in seiner Nobelpreisrede.

Denn über die besondere Stabilität von Atomkernen mit magischer Zahl von Neutronen und Protonen hatte er mit dem Physiko-Chemiker Hans Süss und dem Kernphysiker Otto Haxel seit den 1930er-Jahren diskutiert. Bisher hatte Jensen für die experimentellen Daten keine theoretische Erklärung finden können. „Diesen Nachmittag werde ich nie vergessen. Niels Bohr hörte sehr aufmerksam zu und warf immer wieder Fragen ein, die immer lebhafter wurden. Einmal bemerkte er: ‚Das steht aber nicht in Frau Mayers Arbeit!‘; offensichtlich hatte Bohr ihre Arbeit bereits sorgfältig gelesen und darüber nachgedacht. Das Seminar entwickelte sich zu einer langen und lebhaften Diskussion. Ich war sehr beeindruckt von der Intensität, mit der Niels Bohr diese empirischen Fakten wahrnahm, abwog und verglich, Fakten, die so gar nicht in sein eigenes Bild der Kernstruktur passten. Von dieser Stunde an begann ich, ernsthaft über die Möglichkeit einer ‚Entzauberung‘ der ‚magischen Zahlen‘ nachzudenken.“

Johannes Daniel Jensen, gerufen Hans, wurde am 25. Juni 1907 als drittes Kind eines Gärtners des Botanischen Gartens in Hamburg geboren. Er verlor beide Eltern kurz nacheinander, als er 15 und 16 Jahre alt war. Die Fürsorge seiner älteren Schwester und seine naturwissenschaftliche Begabung ermöglichten ihm, weiter zur Schule zu gehen und zu studieren. 1926 schrieb er sich in Hamburg für Physik, Mathematik, physikalische Chemie, Chemie und Philosophie ein. 1931 legte er das Staatsexamen für das höhere Lehramt ab, schlug dann aber eine wissenschaftliche Laufbahn in der Physik ein. Bereits ein Jahr später wurde er bei Wilhelm Lenz mit einer Arbeit über das Thomas-Fermi-Modell promoviert und anschließend als Assistent am Institut für Theoretische Physik der Universität Hamburg eingestellt. 1936 erhielt er seine erste Stellung als Dozent in Hamburg. Während der 1930er-Jahre baute er einen engen wissenschaftlichen und persönlichen Kontakt zu Niels Bohr auf.

1937 geriet er nach Aussagen seiner späteren Mitarbeiter Hans-Günter Dosch und Berthold Stech in einen schweren Gewissenskonflikt, als die Hamburger Dozentenschaft nahezu geschlossen der NSDAP beitrat. „Durch seine Weltoffenheit, seinen Respekt vor den jüdischen Kollegen und nicht zuletzt durch seine Abscheu vor bombastischem Pathos war er [gegenüber dem Nationalsozialismus] vollkommen immun“, berichten sie. Jensen habe erwogen, zu emigrieren oder in die Industrie zu wechseln. Dass er letztlich doch in die NSDAP eintrat, führen sie auf zwei Umstände zurück: einerseits hätten ihm die einzigen beiden Kollegen, die ihren Beitritt zur NSDAP verweigerten, dazu geraten, „damit nach dem vorauszusehenden Zusammenbruch auch jüngere qualifizierte Kollegen beim Aufbau einer neuen Universität mitwirken könnten“. Andererseits hätte Jensens Frau Elisabeth, die eine linke ASTA-Liste unterstützte, ihr Medizinstudium nicht fortsetzen können, wenn er sich geweigert hätte.

Dosch und Stech berichten, dass Jensen den Kontakt zu Niels Bohr auch während der Kriegsjahre und der Besatzungszeit aufrechterhielt. Über Bohr hätte Jensen auch Kontakte zur skandinavischen Widerstandsbewegung geknüpft. Er konnte die Deportation des jüdischen Physikers Richard Gans verhindern. Seine Frau wurde nach dem Studium Amtsärztin im Ausländerlager Egestorf, wo sie holländische Zwangsverschleppte betreute.

Bei Kriegsausbruch arbeitete Jensen zunächst als Wehrmachtsbeamter beim Wetterdienst. Doch schon bald wurde er für das Uranprojekt abgezogen. Mit dem Physiko-Chemiker Paul Harteck in Hamburg entwickelte er ein Ultrazentrifugensystem zur Anreicherung des spaltbaren Uran-235. Ebenso stellte er die Berechnungen für das erste Reaktorexperiment an, das im Juni 1940 unter Hartecks Leitung in Hamburg stattfand. Aufgrund seiner guten Kontakte nach Skandinavien wurde Jensen mehrmals im Auftrag der deutschen Besatzer nach Norwegen geschickt, um schweres Wasser für die Moderatoren des Reaktors zu beschaffen. Möglicherweise wurde er in dieser Doppelrolle von einem Nazi-Kollegen durchschaut, denn Dosch und Stech erwähnen eine Denunziation, die nur dank Walther Gerlachs Eingreifen folgenlos blieb.

In diese nervenaufreibende Zeit geht Hans Jensens Beschäftigung mit der Struktur der Atomkerne zurück. 1939 veröffentlichte er eine größere Arbeit über den damaligen Stand der Kernsystematik, in der er aus der phänomenologischen Analyse der Kerndaten Stabilitätskriterien ableitete. In der Folgearbeit wies er auf einen Zusammenhang zwischen der Bindungsenergie im Atomkern und der Häufigkeit des Vorkommens der Elemente hin. In dieser Arbeit bezog er sich auch zum ersten Mal auf das von Walter Elsasser eingeführte Schalenmodell des Atomkerns, das damals mit Niels Bohrs Compound-Kern-Modell konkurrierte.

1941 erhielt Hans Jensen eine Professur für Theoretische Physik an der Technischen Hochschule Hannover. Während der Kriegsjahre wurden Otto Haxel in Berlin und Göttingen und Hans Suess in Hamburg zu seinen wichtigsten Gesprächspartnern über die Kerne mit „magischen Zahlen“ (2, 8, 20, 28, 50, 82, 126). Haxel war über kernphysikalische Messungen auf deren Bedeutung gestoßen und Suess über seine kosmo-chemischen Arbeiten. Er hatte deutliche Hinweise für Zahlen 50 und 82 gefunden, auf die auch der Geochemiker Victor Moritz Goldschmidt in Oslo schon hingewiesen hatte. Jensen und Suess besuchten ihn 1942 kurz vor dessen Flucht nach Schweden.

Nach Kriegsende war Hans Jensen eine der treibenden Kräfte für den Wiederaufbau der Universität Heidelberg, an die er im Wintersemester 1948/49 als Professor für theoretische Physik berufen wurde. Insbesondere sorgte er dafür, dass Heidelberg mit der Berufung der Experimentalphysiker Otto Haxel und Hans Kopfermann in der Kernphysik führend wurde. Dies begünstigte die Gründung des Max Planck-Instituts für Kernphysik unter der Leitung Wolfgang Gentners. Auf Jensens Initiative geht auch der Kauf der Villa am Philosophenweg 16 zurück, in dem die Theoretische Physik bis heute untergebracht ist. Jensen bewohnte selbst zwei Zimmer im Haus und verwandelte das Grundstück in einen blühenden Garten.

Jensens Engagement wurde überschattet durch seine Entnazifizierung. 1946 war er aufgrund seiner Parteimitgliedschaft und seiner Mitarbeit am deutschen Uranprojekt als Mitläufer eingestuft worden, sah sich aber selbst als Widerständler. Erst im Juli 1949 wurde er rechtskräftig entlastet. Kurt Scharnberg hat die Haltung Hans Jensens und seine Rolle im Uranprojekt in seinem 2020 erschienenen Buch detailliert untersucht und bringt zahlreiche Belege zu dessen Entlastung. Von den Alliierten wurde Jensens Mitarbeit im Uranprojekt übrigens nicht als bedeutend genug eingeschätzt, um ihn nach dem Krieg mit den führenden deutschen Wissenschaftlern im britischen Farm Hall zu internieren.

In die belastende und arbeitsintensive Nachkriegszeit fällt zugleich Hans Jensens wissenschaftlicher Durchbruch beim Schalenmodell. Er habe nach dem Besuch bei Niels Bohr zunächst mit den magischen Zahlen gespielt, um sie nach einer bestimmten Regel erzeugen zu können. Unter anderem schlug er in einem Lehrbuch die Lösungen für die Schrödinger-Gleichung des dreidimensionalen harmonischen Oszillators nach. „Dann schrieb ich die Lösungen auf, die man erhält, und zwar sortiert nach dem Drehimpuls, und wandte das Pauli-Prinzip an, um zu sehen, wie viele Teilchen in jedes Niveau passen würden.“ Er entdeckte, dass die Anordnung, mit der sich die magischen Zahlen erzeugen ließen, einer starken Spin-Bahn-Kopplung entsprach.

Die erste Notiz von Jensen und Suess wurde jedoch von „Nature“ mit der Begründung abgelehnt: „It is not physics but only playing with numbers.“ Im Winter 1948/49 gelang es Haxel, Jensen und Suess, eine Serie von drei Artikeln in den „Naturwissenschaften“ zu veröffentlichen. Eingedenk des Interesses, das Bohr am Schalenmodell gezeigt hatte, wagte Jensen jetzt auch, einen kurzen Artikel an „Physical Review“ zu senden. Zufällig hatte Maria Goeppert-Mayer ihren Artikel zum gleichen Thema kurz vorher eingereicht. Beide Artikel erschienen in derselben Ausgabe. In den folgenden Jahren arbeiteten Jensen und Goeppert-Mayer die Theorie des Kernschalenmodells gemeinsam aus und veröffentlichten 1966 ihr Buch „Elementare Theorie der nuklearen Schalenstruktur“.

1963 erhielten sie gemeinsam eine Hälfte des Nobelpreises für Physik. Als Kurt Georg Kiesinger, der damalige baden-württembergische Ministerpräsident, Jensen am Tag der Bekanntgabe fragte, ob er einen Wunsch habe, sagte er: „Ja, Sie können einem staatenlosen Studenten, der aus dem Irak vertrieben wurde, die deutsche Staatsbürgerschaft erteilen.“ Sein Wunsch ging in Erfüllung.

Hans Jensen starb unerwartet am 11. Februar 1973 im Alter von 65 Jahren in Heidelberg. In den Physikalischen Blättern erschien nur ein Foto von ihm zusammen mit den Angaben „Professor Dr. J. Hans D. Jensen, Nobelpreis für Physik 1963“ samt Lebensdaten. Einen Nachruf hatte sich Jensen verbeten.

Anne Hardy
 

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