22.04.2022 • AstronomieAstrophysik

Die Frühzeit der Milchstraße

Präzise Bestimmung des Alters von 250.000 Sternen ermöglicht Datierung von Phasen der galaktischen Entwicklung.

Mit Hilfe eines einzigartigen neuen Datensatzes ist Maosheng Xiang und Hans-Walter Rix vom MPI für Astronomie die bislang detaillierte Rekonstruktion der Frühzeit unserer Heimatgalaxie gelungen: In der Zeit vor etwa 13 Milliarden bis 8 Milliarden Jahren verschmolz die Milchstraße mit anderen Galaxien und verbrauchte viel Wasserstoff, um neue Sterne zu bilden. Möglich wurde die Rekonstruktion, weil die Forscher das Alter zahlreicher Sterne in der Milchstraße präzise bestimmen konnten.

Abb.: Visualisierung der Milch­straße, von oben gesehen. (Bild: S....
Abb.: Visualisierung der Milch­straße, von oben gesehen. (Bild: S. Payne-Wardenaar, MPIA)

Zu verstehen, wie unsere Heimatgalaxie entstanden ist und sich entwickelt hat, ist ein wichtiges Ziel der Astronomie und Astrophysik. Neue umfangreiche Beobachtungs­daten haben dabei in den letzten Jahren zu beeindruckenden Fortschritten geführt. Die Untersuchung von Xiang und Rix ist ein nächster großer Schritt: Die beiden Forscher konnten eine Reihe früher Phasen der Milchstraßen­geschichte erstmals genauer datieren. Möglich wurde das durch eine Auswertung, bei der es gelang, das Alter von 250.000 Sternen.

Nach heutigen Verständnis hat die Galaxis mehrere Phasen durchlaufen. Zunächst verschmolzen kleine, gasreiche Vorläufer­galaxien zu einem Vorläufer-Gebilde, das später zur Milchstraße heranwuchs. Da die verschmelzenden Galaxien nicht frontal miteinander kollidierten, verliehen sie der neu entstehenden Struktur einen Drehimpuls, der zu einer Abflachung führte. So dürfte die dicke Scheibe der Milchstraße entstanden sein: Gas und Sterne in einer abgeflachten Scheibe mit einem Durchmesser von 100.000 Lichtjahren und einer Dicke von 6000 Lichtjahren.

Eine Reihe weiterer Verschmelzungen mit Galaxien, die etwas kleiner waren als die Milchstraße, schufen den stellaren Halo, der die Milch­straßen­scheibe umgibt – und jede weitere Verschmelzung brachte die regelmäßigen Abläufe in unserer Galaxis etwas durcheinander. Danach verlief die Entwicklung wesentlich ruhiger. Sterne entstehen seither vor allem in der dünnen Scheibe, die jünger und nur etwa 2000 Lichtjahre dick ist.

Das neue Ergebnis von Xiang und Rix beschreibt detaillierter als je zuvor die Geschichte der produktiven ersten Phasen der Milchstraße. Entscheidend für diese Rekonstruktion war, dass es den Astronomen gelungen war, das Alter von etwa 250.000 einzelnen Sternen genau zu bestimmen. Es gibt eine bestimmte Sorte von Sternen, die Unterriesen, bei denen man das Alter direkt aus Oberflächen­temperatur und Helligkeit erschließen kann. Der Nachteil ist, dass Unterriesen sehr selten sind: Nur wenige Prozent der Sterne in unserer Milchstraße befinden sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in diesem kurzen Entwicklungs­stadium.

Glücklicherweise liefern neuere, umfassende Himmels­durch­musterungen qualitativ hochwertige Daten für eine große Anzahl von Sternen – genug, um auch zahlreiche Exemplare der selteneren Sternsorten zu erfassen: Das Early Data Release 3 der ESA-Mission Gaia, das im Dezember 2020 veröffentlicht wurde, lieferte Positions­daten und Entfernungen für fast 1,5 Milliarden Sterne. Und die siebte Daten-Veröffentlichung der LAMOST-Durchmusterung, die im Jahr 2021 veröffentlicht wurde, bot mehr als neun Millionen Sternspektren, die ihrerseits Informationen über die Temperatur und die chemische Zusammen­setzung der Sterne enthalten. Indem sie die Informationen aus diesen beiden Datensätzen kombinierten, konnten Xiang und Rix ihren umfangreichen Katalog von Sternen mit bekanntem Alter zusammen­stellen.

Die Forscher sortierten die Sterne nach Alter und chemischer Zusammen­setzung und konstruierten so ein Bild der galaktischen Frühzeit – inklusive Zeitangaben, wann die verschiedenen Phasen der Entwicklung statt­ge­funden hatten. Xiang und Rix fanden heraus, dass sich vor etwa elf Milliarden Jahren in kurzer Zeit außergewöhnlich viele neue Sterne bildeten. Das dürfte die Folge eines Verschmelzungs­ereignisses sein: der Verschmelzung der Milchstraße mit einer kleineren Galaxie. Überreste jener kleineren Galaxie wurden 2018 von zwei Gruppen anhand von Gaia-Daten entdeckt und „Gaia-Enceladus/Sausage“ genannt.

In ihren Daten konnten Xiang und Rix erkennen, dass ein auffälliges Produktions­maximum bei der Stern­entstehung damit zusammenfiel, dass sich die Bahnen zahlreicher Sterne plötzlich und drastisch verändert hatten. Letzteres ist eine Folge der Verschmelzung, also des Gravitations­einflusses der Gaia-Enceladus/Sausage-Galaxie. Damit dürfte das Stern­entstehungs-Maximum in der Milchstraße nicht nur zeitgleich mit der Gaia-Enceladus/Sausage-Verschmelzung aufgetreten, sondern eine Folge der Verschmelzung gewesen sein: Stoßwellen aus der Kollision der Gasmassen der Gaia-Enceladus/Sausage-Galaxie mit dem Gas in der Milchstraße könnten den Kollaps von Gaswolken und damit die vermehrte Sternbildung ausgelöst haben.

Auch nachdem die turbulente Ära der Verschmelzungen beendet war, bildete die dicke Scheibe auf ungewöhnlich produktive Weise Sterne. Die Gesamtzahl der gebildeten Sterne lässt darauf schließen, dass die dicke Scheibe von Anfang an große Mengen an Gas enthielt. Das würde auch ihre Dicke erklären. Mit einem so großen Vorrat an Gas waren die Bedingungen für die Stern­entstehung sehr günstig – auch ohne dass sich jene Scheibe zu einem schmaleren Gebilde zusammen­ziehen musste, um die für die Stern­entstehung nötigen Gasdichten zu erreichen.

Vor allem massereiche Sterne produzieren viele Elemente, die schwerer sind als Wasserstoff und Helium. Die schwereren Elemente sammeln sich in der Regel in der Nähe der zentralen Regionen einer Galaxie. Sterne, die in jenen Regionen neu entstehen, enthalten daher typischer­weise mehr schwere Elemente als Sterne, die in den Außenbezirken entstehen.

Die von Xiang und Rix gesammelten Daten zeigen jedoch etwas anderes: Alle Sterne, die zur selben Zeit entstehen, haben denselben Gehalt an schweren Elementen. Das gilt vom frühest­möglichen Zeitpunkt an, der in den Daten sichtbar ist – 13 Milliarden Jahre vor unserer Zeit, also nur 800 Millionen Jahre nach dem Urknall – bis zu der Zeit vor etwa acht Milliarden Jahren, ab dem die Milchstraße in ihre ruhigere Phase eintritt. Der Anteil an schweren Elementen ändert sich dabei mit der Zeit: Je älter ein Stern ist, desto weniger davon enthält er.

Die einfachste Erklärung für diesen Umstand ist, dass während dieser ganzen Zeit eine gründliche Durch­mischung des Gases in der dicken Scheibe statt­gefunden hat – und diese Erklärung ist ein Schlüssel­ergebnis der neuen Studie. Auf diese Weise hätten alle zur gleichen Zeit entstandenen Sterne die gleiche chemische Zusammen­setzung erhalten, wobei der Anteil schwerer Elemente mit der Zeit zunahm, da das Gas allmählich mehr und mehr mit den Produkten der Kern­fusions­prozesse früherer Stern­generationen angereichert wurde.

Vor etwa acht Milliarden Jahren, so zeigen die neuen Daten, gingen die produktiven Jahre der Milchstraße zu Ende. Das dürfte daran gelegen haben, dass die dicke Scheibe einen Großteil ihres anfänglichen Vorrats an Wasserstoff aufgebraucht hatte. Offensichtlich gab es aber immer noch einen stetigen Zufluss mäßiger Mengen an frischem Wasserstoff aus dem inter­galaktischen Raum, und da die Stern­entstehungs­aktivität in der dicken Scheibe so gut wie beendet war, konnte sich dieses Gas nach und nach in einer eigenen Scheibe ansammeln. Da aber insgesamt nicht so viel Gas einströmte, musste sich diese Scheibe deutlich weiter zusammenziehen, auf eine Dicke von nur etwa 2000 Lichtjahren, um die richtigen Bedingungen für eine (mäßige) Stern­entstehung zu erreichen. Das Ergebnis war das, was wir heute die dünne Scheibe unserer Galaxis nennen.

Xiang und Rix planen jetzt ihre nächsten Schritte. In einigen Jahren sollte es noch deutlich bessere und umfassendere Datensätze geben. Um das Jahr 2024 ist die vierte Daten-Veröffentlichung der Gaia-Mission der ESA zu erwarten. Die präziseren Entfernungs­messungen dieser Veröffentlichung sollten genaue Alters­schätzungen für eine noch deutlich größere Anzahl von Sternen und über wesentlich größere Entfernungen hinweg ermöglichen.

Detaillierte spektroskopische Durch­musterungen decken den Nordhimmel derzeit ebenfalls nur bis zu geringen Entfernungen ab. Das sollte sich dank Durch­musterungen wie SDSS-V und 4MOST ändern. Insgesamt stehen die Chancen gut, dass die hier beschriebene Pionier­arbeit der Beginn eines neuen Kapitels der „galaktischen Archäologie“ sein könnte, das auf großen Stichproben mit präzisen Sternaltern beruht.

MPIA / RK

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