07.05.2020

Waldbrand im Rydberg-Modell

Gas aus Rydberg-Atomen dient als vielseitiges Modell für Nichtgleichgewichts-Phasenübergänge.

Selbstorganisierte Dynamik spielt in den unter­schiedlichsten Bereichen komplexer Systeme eine entscheidende Rolle – von der Physik über die Biologie und Erdwissenschaften bis hin zu sozialen und ökonomischen Systemen. Die experi­mentelle Modellierung selbst­organisierter Systeme ist allerdings häufig dadurch beschränkt, dass sich nicht ohne Weiteres Systeme finden lassen, deren Parameter sich über einen hinreichend großen Bereich einstellen lassen. Das erschwert die Ermittlung emergenter Eigen­schaften. Ein internationales Forscherteam um Dong-Sheng Ding vom Key Laboratory of Quantum Information, University of Science and Technology of China in Hefei, hat nun ein neuartiges selbst­organisiertes System auf der Basis von stark miteinander wechsel­wirkenden Rydberg-Atomen vorgestellt. Damit lassen sich Nicht­gleichgewichts-Phasen­übergänge untersuchen. Dank der hohen Empfind­lichkeit des Systems lässt sich das gesamte Phasen­diagramm darstellen, auch in der Nähe des kritischen Punktes. 

 

Abb.: In einer rund fünf Zenti­meter langen Zelle befindet sich das...
Abb.: In einer rund fünf Zenti­meter langen Zelle befindet sich das Rubidium­gas, das mit Laser­strahlen zu Rydberg-Zuständen angeregt wird. (Bild: D.-S. Ding et al. / APS)

Selbst­organisierte Systeme weisen eine Reihe besonderer Eigen­schaften auf. Dazu gehört nicht nur das Zusammenspiel von Energie­zufuhr und Dissipation mitsamt einer möglichen Struktur­bildung. Es lassen sich auch Phänomene wie selbs­torganisierte Kritikalität beobachten – auch wenn die Theorie dahinter noch durchaus kontrovers diskutiert wird. Denn selbst vergleichsweise einfache physikalische Systeme lassen sich nicht ohne Weiteres klar genug charak­terisieren, um eine selbst­organisierte Kritikalität darzustellen, bei der sich Phasen­übergänge studieren lassen. Die Forscher um Ding haben sich mit ihrem System genau dieser Aufgabe gestellt. Sie nutzten ein Gas aus Rubidium-Atomen, das in einer kleinen Zelle eingeschlossen war. Den Zustand der Rubidium-Atome mani­pulierten sie mit Hilfe passender Laserstrahlen, wobei sie ein Schema aus drei Zuständen nutzen: Neben dem Grundzustand konnten sie die Atome in einen kurzlebigen, angeregten Zustand bringen oder in einen langlebigen, hoch­angeregten Rydberg-Zustand. Die Wechselwirkung zwischen Rydberg-Atomen erzeugte dabei eine starke dynamische Nicht­linearität, wie sie bei selbst­organisierten Prozessen entscheidend ist. 

Vor allem zur Erforschung der selbst­organisierten Kritikalität ist es nun wichtig, dass eine Nichtgleich­gewichtsdynamik einen Phasenübergang ins Rollen bringt. In einem thermischen Rydberg-Gas kann dies durch dipolare Wechselwirkungen oder durch ionisierende Kollisionen mit Elektronen, Ionen oder anderen Atomen geschehen. In jedem Fall tritt eine lawinen­artige Verstärkung oberhalb einer bestimmten Rydberg-Dichte ein. Dadurch lassen sich zwei Phasen beobachten: eine nicht­interagierende Phase bei geringer Rydberg-Dichte und eine stark wechselwirkende bei hoher Rydberg-Dichte. Durch geschicktes Einstellen der Laser­strahlung konnten die Forscher den Übergang zwischen diesen beiden Phasen hoher und niedriger Rydberg-Dichte in hohem Detail untersuchen. Wie sich heraus­stellte, reagierten die Phasen­übergänge sehr empfindlich auf Fluktuationen bei den atomaren Wechsel­wirkungen.

Dieses Rydberg-Modell weist eine sehr interessante Analogie auf, die man auf den ersten Blick nicht erwartet hätte: Auch Waldbrände folgen ähnlichen Mustern. Bei der Modellierung solcher Ereignisse benötigt man mehrere Parameter. In einem typischen, verall­gemeinerten Modell wachsen Bäume mit einer gewissen Wahrschein­lichkeit auf einer bestimmten Fläche. Wenn nun bei einem Gewitter Blitze – ebenfalls mit einer gewissen Wahr­scheinlichkeit – an einigen Orten Feuer auslösen, dann brennen dicht beieinander stehende Bäume am schnellsten ab. Auf diese Weise entstehen wieder freie Flächen. Über längere Zeit gesehen stehen so das Wachstum von Bäumen und ihre Zerstörung in einem gewissen Gleich­gewicht. Das führt dazu, dass Baumgruppen in einem Wald einen Bereich von Größen abdecken, der einem Potenzgesetz folgt.

Übersetzt in das Modell der Rydberg-Atome bedeutet das: Die Laseranregung eines Atoms entspricht dem Wachstum eines Baumes. Hin und wieder erreicht eine Ansammlung von Atomen aber eine so hohe Dichte, dass sie und die benachbarten Atome in den Grundzustand herunter­purzeln. Das entspricht einem Blitzschlag, der die am dichtesten bewaldeten Baum­gruppen niederbrennt. Die Forscher simulierten ein solches selbst­organisierendes Waldbrand-Modell und konnten feststellen, dass es bei passender der Wahl der Wahrschein­lichkeiten für Baumwachstum und Blitzschlag die Dichte der Rydberg-Atome im Experiment gut wiedergab.

Da sich die Parameter im Experiment über einen weiten dynamischen Bereich einstellen lassen, könnten die Rydberg-Atome aber auch für die Modellierung vieler anderer Systeme infrage kommen. So lässt sich nicht nur bei Waldbränden, sondern auch bei vielen anderen selbst­organisierten Systemen ein Rausch­spektrum identifizieren, das reziprok zur Frequenz skaliert. Dieses Rauschverhalten findet sich nicht nur etwa bei Haufen aus granularer Materie, sondern auch bei Erdbeben, beim Herzrhythmus und sogar bei Aktienkursen. Optisch angeregte Rydberg-Atome könnten sich als vielseitiges, ver­gleichsweise einfaches und gut zu kontrol­lierendes Modell erweisen, wenn es darum geht, die universellen und nicht-universellen Eigenschaften solcher selbst­organisierten Prozesse in der Nähe kritischer Punkte und bei Phasen­übergängen zu untersuchen. 

Dirk Eidemüller

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