Quantifizierung von Strahlenschäden in Materialien

Gespeicherte Energiemenge liefert Aufschluss über Zerstörungsausmaß auf atomarer Ebene.

Eine Titanschraube aus der MIT-Kern­reaktor­anlage wurde zum Schlüssel für die Demons­tration einer umfas­senderen Methode zur Erkennung von Struktur­schäden auf atomarer Ebene in Materialien – ein Ansatz, der die Ent­wicklung neuer Werk­stoffe unter­stützen wird und beispiels­weise den laufenden Betrieb von kohlen­stoff­emissions­freien Kern­kraft­werken fördern könnte, was zur Linderung des globalen Klima­wandels beitragen würde.

Abb.: Ein neues Instru­ment gestattet, selbst kleinste, sich anderen...
Abb.: Ein neues Instru­ment gestattet, selbst kleinste, sich anderen Nach­weisen ent­ziehende Material­schäden direkt zu messen, und kann einen Weg für den sicheren Betrieb von Kern­kraft­werken weit über ihre der­zeitige geneh­migte Lauf­zeit hinaus er­öffnen. (Bild: Mit freund­licher Geneh­migung der For­scher.)

Anstatt die physikalische Struktur eines Materials direkt zu beobachten, unter­suchten Charles Hirst und seine Kollegen vom Massachusetts Institute of Technology (MIT), der Universität Helsinki, des Idaho National Laboratory und der University of California in Irvine die in dieser Struktur gespeicherte Energiemenge. Jede Störung der geordneten Struktur der Atome in einem Material, z. B. durch Strahlen­­belastung oder mecha­nische Be­an­spruchung, verleiht dem Material einen Energie­­überschuss. Durch Unter­­­suchung und Quanti­­fizierung dieser Energie­menge lässt sich der Gesamt­­schaden im Material be­rechnen – selbst wenn dieser Schaden in Form von Defekten auf atomarer Ebene auftritt, die zu klein sind, um mit Mikros­kopen oder anderen Nachweis­­verfahren abgebildet zu werden.

Nachdem die Methode durch Berech­nungen und Simulationen bereits im Detail aus­gearbeitet wurde, fehlte noch ihre Bestätigung. Die Tests an der Titan­mutter aus dem MIT-Kern­reaktor lieferten dann den Nachweis – und öffneten die Tür zu einer neuen Art der Messung von Schäden in Materialien.

Die als Dynamische Differenz-Kalori­metrie (engl.: differential scanning calorimetry) bekannte Methode ähnelt – wie Hirst erklärt – im Prinzip den aus dem Chemie­unterricht bekannten Kalori­metrie-Experi­menten, bei denen gemessen wird, wie viel Energie nötig ist, um die Temperatur eines Gramms Wasser um ein Grad zu erhöhen. Das von den Forschern verwendete System war „im Grunde genommen genau dasselbe, nämlich die Messung von Energie­änderungen. ... Ich nenne es einfach einen schicken Ofen mit einem Thermo­element darin“, so der Wissen­schaftler.

Das Verfahren beruht auf einer schritt­weisen Erhöhung der Tempe­ratur einer Probe im Vergleich zu einer Referenz­probe bei gleich­zeitiger Bestimmung der dazu erforder­lichen jeweiligen Wärme­mengen. Der Unter­schied beider Proben gibt Aufschluss über die in der zu unter­suchenden Probe gespeicherte Energie.

„Wir erhöhen die Temperatur zweier Kammern – einer mit der zu unter­suchenden Probe und einer leeren Referenz­kammer – von Raum­tempe­ratur auf bis zu 600 Grad Celsius mit einer konstanten Rate von 50 Grad pro Minute“, erklärt Hirst. Im Vergleich zum leeren Gefäß „hinkt das proben­befüllte natürlich hinterher, weil es zusätzliche Energie benötigt, um auch das Proben­material zu erhitzen“, so Hirst weiter. „Aber wenn sich die Energie im Material ändert, ändert sich auch die Temperatur. In unserem Fall wurde Energie freigesetzt, als sich die Defekte rekombinierten, und dann bekommt das Material einen kleinen Vorsprung vor dem Ofen ... und so messen wir die Energie in unserer Probe."

Hirst, der die Arbeit über einen Zeitraum von fünf Jahren im Rahmen seiner Doktor­­arbeit durch­führte, stellte fest, dass das be­strahlte Material im Gegen­satz zu den bis­herigen Annahmen zwei ver­schiedene Mechanis­men für die Relaxation von Defekten in Titan bei den unter­suchten Tempe­­raturen aufweist. Dies zeigt sich in zwei sepa­raten Spitzen in der Kalori­­metrie.

Abb.: Dynamische Differenz-Kalori­metrie: Bestrahlte Proben geben während des...
Abb.: Dynamische Differenz-Kalori­metrie: Bestrahlte Proben geben während des Erhitzens gespeicherte Energie ab. Die Kurven zeigen die spezifische Leistungsdifferenz zwischen der ersten Erwärmung der (defekten) Probe und dem Mittelwert der nachfolgenden Erwärmungen 2 bis 5 (geglühte Probe). (Bild: Mit freundlicher Genehmigung der Autoren)

„Anstatt eines Prozesses haben wir ein­deutig zwei gesehen, und jeder von ihnen ent­spricht einer anderen Reaktion, die im Material abläuft“, erklärt Hirst. Als die beiden Mecha­nismen der neutronen­strahlungs­bedingten Material­zerstörung konnten die Wissen­schaftler Fehl­stellen­bildung und Versetzung im Atom­gefüge ausmachen.

Die Forscher fanden auch heraus, dass die die Aus­bildung strahlen­induzierter Defekte komplexer als bisher angenommen ist. „Tatsache ist, dass unser all­ge­meines Wissen über die Entwicklung von Strahlen­schäden auf Unter­suchungen bei extrem niedriger, von Elektronen­strahlung her­vor­­gerufener Temperatur beruht“, ergänzt Hirsts Kollege Michael Short. Die neue Methode berücksichtigt nun die tatsäch­lichen Bedingungen, unter denen die Material­belastung statt­findet. „Jetzt kann die neue Methode auf Materialien angewandt werden, die aus bestehenden Reaktoren entnommen wurden, um mehr darüber zu erfahren, wie sie sich während des Betriebs abnutzen", so Hirst.

Experi­mentelles und simuliertes Ausheilen von Material­­schäden beschränkt sich nicht nur auf die Charakte­risierung solcher, die durch Bestrahlung entstehen, sondern kann auch zur Unter­­suchung von Schäden verwendet werden, die von anderen Faktoren bei der Ver­­arbei­tung und dem Betrieb von Werk­­stoffen verursacht werden. Darüber hinaus kann dieser Ansatz zur Unter­­suchung von Schäden über die gesamte Band­breite von Material­­systemen angewendet werden: von struktu­­rellen über optische bis hin zu elektro­­nischen Materialien.

MIT / LK

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