17.02.2020

Chernobyl

Chernobyl, Regie: Johan Renck, USA 2019, 312 Min., Deutsch/Engl., 2 DVDs oder 2 Blu-Rays, ca. 15 bzw. 20 Euro, Streaming: www.sky.de/serien/chernobyl-173093

Johan Renck

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Chernobyl

Wer viel von seinem Fach versteht, braucht in der Regel viel Geduld oder eher Leidensfähigkeit, wenn die Medien oder gar die Unterhaltungsindus­trie Aspekte des eigenen Fachs aufgreifen. Wer sich als Physikerin oder Physiker die vielumjubelte, fünfteilige HBO-Miniserie „Chernobyl“ ansehen möchte, muss diese Befürchtungen allerdings nicht hegen. Keine Frage, zahlreiche Details sind überzeichnet, und so mancher Aspekt lässt sich auch als eindeutig falsch (mitunter sogar als grober Unsinn) identifizieren, aber das Bemühen um größtmögliche Realitätstreue kann den Produzenten keinesfalls abgesprochen werden.

Die fulminante Serie ist über weite Strecken erstaunlich gut recherchiert und inhaltlich bemerkenswert korrekt. Die Detailtreue beschränkt sich dabei jedoch nicht nur auf technische Aspekte des Unfall­ablaufs, sondern reicht oftmals bis in Winzigkeiten, etwa die wohl typisch sowjetischen Verzierungen der Mauer rund um das Kernkraftwerk, die bei einem schnellen Besuch der Sperr­zone wahrscheinlich zunächst gar nicht auffallen würden. Auch das alltägliche Leben in der Sowjetunion – Möbel, Tapeten – ist aufwändig rekonstruiert und deckt sich mit dem, was sich bis heute in den verlassenen Wohnungen Pryp­jats vorfindet. Besonders beeindruckt, dass es den Produzenten gelungen ist, die technisch durchwegs komplexe Verstrickung verschiedener Unfallursachen für den Laien verständlich und mit möglichst großer Richtigkeit darzulegen.

Drei Hauptakteure treiben die Handlung voran. Der Chemiker Valerij Legasow sowie der Parteifunktionär und Leiter der zuständigen Regierungskommission, Boris Scherbina sind real. Ein fiktiver Charakter in der Person der weißrussischen Kernphysikerin Ulana Khomyuk steht stellvertretend für die vielen Wissenschaftler, die unter anderem in der forensischen Aufklärung der Unfallursachen eingebunden waren. Die bangen, von donnernden Polit­befehlen geprägten Stunden und Tage nach dem Unfall und das endlose Ringen um eine schnellstmögliche Evakuierung der am meisten betroffenen Gebiete spiegeln den Konflikt zwischen Staatstreue und Gewissen wider. Am Ende entscheidet sich Legasow im Gerichtsverfahren gegen die Hauptangeklagten, nicht nur deren menschliches Versagen zu dokumentieren, sondern auch entgegen den Staatsinteressen die Konstruktionsmängel des Reaktortyps von Tschernobyl anzuprangern.

Die Serie zeigt ein überzeugendes Sittenbild eines zutiefst unfreien politischen Systems, das vor Bespitzelung, institutionalisierter Lüge, Erpressung und nicht zuletzt dem Verheizen von Menschen als „Bioroboter“ nicht zurückschreckt. Dabei wird jeder von klein auf konditioniert, in erster Linie seine eigene Haut zu retten.

Die mit akuter Strahlenkrankheit todgeweihten, dahinsiechenden Kraftwerksmitarbeiter oder Feuerwehrleute werden schonungslos und zweifelsfrei überzeichnet dargestellt. Teilweise grauenvolle Bilder verlangen den Zuschauern einiges ab. Eine spannende Serie nicht nur für Kernphysiker – aber definitiv nur für all jene mit einem starken Magen.

Prof. Dr. Georg Steinhauser,
Leibniz Universität Hannover, Institut
für Radioökologie und Strahlenschutz

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