16.03.2022

Zerschlagene Kollaborationen

Russlands Angriff auf die Ukraine zerstört die Zusammenarbeit mit der russischen Wissenschaft.

Es herrscht Krieg in Europa: Russland hat auf Anordnung seines Präsidenten Wladimir Putin den souveränen Nachbarstaat Ukraine angegriffen und scheint eine Eroberung des gesamten Staatsgebiets anzustreben. Im Alltag macht sich der Konflikt durch steigende Kosten für Erdgas, Heizöl und Treibstoffe bemerkbar; in der Wissenschaft reißt er Brücken ein, die über viele Jahre, teils Jahrzehnte aufgebaut wurden. Auch die DPG hat die Zusammenarbeit mit russischen Einrichtungen und Organisationen eingestellt. Besonders betroffen sind die international agierenden Großforschungseinrichtungen.

Ein Beispiel dafür versteckt sich hinter dem EU-Projekt CREMLINplus. Das Akronym steht für „Connecting Russian and European Measures for Large-scale Research Infrastructures“; das Plus deutet an, dass es sich um ein Fortsetzungsprojekt handelt. CREMLINplus zielt auf den Ausbau der wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland ab: Zehn russische Partnerinstitute und 25 Einrichtungen in der Europäischen Union sowie assoziierten Ländern des Forschungsrahmenprogramms Horizon 2020 arbeiten seit zwei Jahren daran, die Kooperation von Großforschungseinrichtungen zu verbessern. Die Koordination des Projekts liegt beim DESY. Dort leitet Martin Sandhop die Abteilung „Internationales“ des Direktoriumsbüros – und hat nun viel zu tun, um das Projekt neu aufzustellen.

Denn die Europäische Kommission hat als Geldgeber alle Mittel, die nach Russland hätten fließen sollen, für unbestimmte Zeit auf Eis gelegt. Alle zehn Arbeitsgruppen müssen sich neu organisieren, weil die russischen Mitglieder nicht mehr mitarbeiten. Laut Martin Sandhop gebe es momentan keinen Kontakt zu den ehemaligen Partnerinnen und Partnern, von denen sich einige nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine beschämt gezeigt hätten.

Zu den russischen Großforschungsprojekten, für die CREMLINplus auch ein Zugangsverfahren für nicht-russische Forschende entwickeln sollte, gehören die Neutronenquelle PIK in Gatchina bei Sankt Petersburg und die Ionen-Collideranlage NICA in Dubna. Von der gemeinsamen Arbeit, auch an neuen Detektortechnologien für die Anlagen, haben die Partner von CREMLINplus bereits profitiert. „Darum sind wir optimistisch, das Projekt auch ohne russische Beteiligung fortsetzen zu dürfen“, erklärt Sandhop. Über die Förderung hinaus fragt er sich, wie eine sichere internationale Kollaboration in Zukunft aussehen könnte. Ein möglicher „Dual Use“ für militärische Zwecke sollte vorab ausgeschlossen sein.

Die Flaggen der 23 Mitgliedsstaaten des CERN (Bild: CERN / Maximilien Brice)
Die Flaggen der 23 Mitgliedsstaaten des CERN (Bild: CERN / Maximilien Brice)

Als nach dem Zweiten Weltkrieg das CERN gegründet wurde, spielte ein Dual Use von Forschungsergebnissen keine Rolle. Vielmehr sollte ein Ort entstehen, an dem Menschen unterschiedlicher Nationen gemeinsam mit friedlichen Zielen Wissenschaft betreiben können. Entsprechend stehe der russische Einmarsch in der Ukraine im Gegensatz zu allen Werten, welche die Organisation vertritt, erklärte das CERN-Council am 8. März. In diesem Rat haben die 23 Mitgliedsstaaten des CERN eine gemeinsame Stimme; die Ukraine gehört dem Gremium als assoziierter Partner nicht an. Laut der Erklärung bleibt der Status eines beobachtenden Staates – den übrigens auch die USA inne hat – für Russland bis auf Weiteres ausgesetzt.

Dennoch arbeiten zahlreiche russische Forschende bei den Experimenten des CERN mit: Einen Abbruch dieser Kollaborationen sieht der Rat nicht vor; es sollen aber auch keine neuen hinzukommen. Darüber hinaus unterstützt das Council Initiativen, um ukrainischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu helfen, beispielsweise indem laufende Forschungsaufenthalte am CERN verlängert werden, wenn eine Rückkehr in die Ukraine nicht möglich ist.

Deutlich früher als das CERN äußerte sich die Europäische Weltraumorganisation ESA zur weiteren Kollaboration mit Russland. Bereits vier Tage nach dem Beginn des Krieges betonten die 22 Mitgliedsstaaten der zwischenstaatlichen Organisation, dass sie dessen Folgen missbilligen. Die ESA prüfe nun, wie sich die Sanktionen der Mitgliedsstaaten auf Kollaborationen mit russischen Partnern, insbesondere die Raumfahrtagentur Roskosmos, auswirken. Entscheidungen sollen entlang der Vorgaben der Mitgliedsstaaten fallen und in Koordination mit anderen internationalen Partnern.

Explizit nennt die ESA in diesem Zusammenhang die Versorgung der Internationalen Raumstation und den Transport von Nutzlasten wie Satelliten. Nach dem Abzug der russischen Belegschaft vom europäischen Weltraumbahnhof in Kourou und dem Wegfall der russischen Sojus-Trägerraketen setzt die ESA auf bereits erprobte Alternativen und die kommenden Systeme Vega-C und Ariane 6. Den für dieses Jahr geplanten Transport des ExoMars Rover sieht die ESA unter den gegebenen Umständen als unwahrscheinlich an.

Keine Erklärung liegt bisher vom Management des Fusionsexperiments ITER vor. Russland ist neben China, der EU, Indien, Japan, Korea und den USA ein Partnerland des Langzeitprojekts und trägt aktiv zum Bau der Anlage im Südwesten Frankreichs bei. China und Indien haben die Invasion in der Ukraine bisher nicht verurteilt – und der Ausschluss eines Landes ist gemäß der Vereinbarung zwischen den Partnern nicht vorgesehen. Sollte es überhaupt zu einer Erklärung bezüglich der Zusammenarbeit kommen, dürften dieser lange diplomatische Diskussionen vorausgehen. Schließlich kam das Projekt einst auf Initiative von Michail Gorbatschow und Ronald Reagan zustande und ist heute auch ein Symbol für die grenzüberwindende Zusammenarbeit in der Wissenschaft.

Eine der nationalen Forschungseinrichtungen mit engen Bezügen zu russischen Einrichtungen ist das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Der Vorstand des DLR bezeichnete das Vorgehen Russlands Anfang März als Angriffskrieg und entschied daher, jegliche Zusammenarbeit mit russischen Institutionen bei laufenden und in Planung befindlichen Projekten zu stoppen. Neue Projekte oder Initiativen werde es nicht geben. Daraufhin hat Russland die Kooperation ebenfalls aufgekündigt.

Wie lange die Zusammenarbeit der großen Forschungsorganisationen und -institute mit der russischen Wissenschaft ruhen wird, ist derzeit nicht absehbar. Martin Sandhop erscheint es momentan realistisch, dass nach den Ereignissen der letzten Wochen Kollaborationen erst dann wieder anlaufen können, wenn nicht nur der Krieg beendet ist, sondern sich Russland auch unter neuer Führung befindet.

Kerstin Sonnabend

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