25.05.2020

Wie Populationen interagieren

Ökologische Begegnungsmodelle mit präzisierten physikalischen Konzepten auf dem Prüfstand.

Von riesigen Gnu-Herden, die durch die Serengeti ziehen, bis hin zur malaria­behafteten Mücke, die sich lautlos einem Menschen nähert – die Art und Weise, wie Tiere sich bewegen, ist ausschlag­gebend für viele ökologische Zusammenhänge, wie zum Beispiel das Räuber-Beute-Verhalten, die Übertragung von Krankheiten oder Konflikte zwischen Mensch und Wildtier. Mit Hilfe von Begegnungs­raten berechnen Forscher, wie oft aktive Individuen miteinander in Kontakt kommen. Während GPS-Geräte die Unter­suchungen von Tier­bewegungen revolutioniert und eine Vielzahl an wertvollen Daten­sätzen generiert haben, gibt es bei der Modellierung der Bewegungs­daten jedoch noch großen Nachhol­bedarf. Ein inter­nationales Team aus Ökologen und Physikern hat nun gezeigt, dass die erhobenen Daten und deren Abbildung anhand bisheriger Modelle stark voneinander abweichen, was sich massiv auf bestimmte ökologische Vorhersagen auswirken könnte.
 

Abb.: Das Räuber-Beute-Verhalten ist wahr­scheinlich die eindrucks­vollste...
Abb.: Das Räuber-Beute-Verhalten ist wahr­scheinlich die eindrucks­vollste Form der Begegnung unter Tieren. Unter Ökologen findet derzeit ein Umdenken der Begegnungs­modelle statt. (Bild: W. Kuhnert / Public Domain)

Das aus der Chemie stammende Standardmodell für Begegnungen, das „Massen­wirkungs­gesetz“, wird seit über einhundert Jahren auch in der Ökologie angewendet. Dabei wird vorausgesetzt, dass sich jedes Individuum gleichmäßig in seinem Habitat bewegt. „Unsere Unter­suchungen zeigen aber, dass die meisten Tiere sich keineswegs gleichmäßig in der Fläche bewegen, sondern sich eher in einem verkleinerten Aktionsraum, sozusagen ihrem Zuhause, aufhalten“, erläutert Justin Calabrese, Gastprofessor am Center for Advanced Systems Understanding (Casus) in Görlitz. Diese Abweichungen zwischen den erhobenen Daten und den Annahmen aus dem Massenwirkungsgesetz legen nahe, dass die bisher genutzten Modelle für Begegnungs­raten überdacht werden müssen.

„Das ist wichtig, weil das Massen­wirkungs­gesetz überall in der Ökologie und in verwandten Bereichen Anwendung findet“, erklärt Calabrese. Als aktuelles Beispiel nennt er die epidemiologischen SIR-Modelle (Susceptible, Infected, Recovered), die hinzugezogen werden, um die Ausbreitung und Kontrolle ansteckender Krankheiten wie COVID-19 zu verstehen. Das interdisziplinäre Forscherteam fand heraus, dass die Modellierungs­ergebnisse vollkommen anders aussehen würden, wenn in die Begegnungsraten das Verhalten im Aktionsraum einbezogen würde. Denn die Begegnungen, die überwiegend auf der Annahme der Massen­wirkung beruhen, konnten nur sehr begrenzt in den realistischeren Modellierungen abgebildet werden.

„Dies lässt vermuten, dass Populations­modelle, wie beispiels­weise SIR-Krankheits­modelle, die sich auf das Massen­wirkungs­gesetz stützen, mit einer realistischeren Berechnung sehr verschiedene Vorhersagen des Bewegungs­verhaltens liefern“, beschreibt Ricardo Martinez-Garcia, Assistenz­professor am Internationalen Zentrum für theoretische Physik in São Paulo. Auffallend ist, dass die neu berechneten Begegnungs­raten im Vergleich zum bisherigen Modell höher oder niedriger ausfallen können und dass sie auf die Eigenheiten des Bewegungs­verhaltens sensibel reagieren. Martinez-Garcia erklärt, dass „diese Art der Kontext­abhängigkeit es uns erschwert beurteilen zu können, in welche Richtung die Vorhersagen überhaupt gehen. Hieraus resultiert ein zukünftiger Forschungs­bedarf.“

Die Modellierung von Begegnungs­raten in der Ökologie hat tiefe inter­disziplinäre Wurzeln. Das Massen­wirkungs­gesetz beruht auf dem Konzept des idealen Gases und beschreibt somit Tiere als Partikel, die sich weitgehend zufällig bewegen und nicht mit ihrer Umwelt interagieren. Um den Rahmen für die neuartige Modellierung von Begegnungen zu entwickeln, bezog sich das Team auf präzisierte physikalische Konzepte, die der statistischen Mechanik des Ungleich­gewichts entlehnt sind. „Die Übertragung von Konzepten aus einer Disziplin in eine andere ist eine wirkungsvolle Methode, um die Komplexität zu bewältigen, die wir in der Natur sehen. Diese Arbeit ist ein klares Beispiel dafür“, beurteilt Calabrese, der erst kürzlich ans neu gegründete Casus wechselte, das selbst inter­disziplinäre System­forschung betreibt und unterschiedliche Forschungs­disziplinen miteinander verknüpft.

Bei Casus wird Calabrese an der Schnittstelle von Ökologie und Erdsystem­wissenschaften arbeiten. An den Unter­suchungen waren neben der Princeton University, der Smithsonian Institution und der University of Maryland auch das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung Leipzig (UFZ) und die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg beteiligt. Der inter­disziplinäre Ansatz ist wichtig, da die Forschungs­ergebnisse zu den Begegnungs­raten weit über die ökologischen Frage­stellungen hinaus bedeutsam sein können. Denn Begegnungen zwischen Individuen, Gruppen oder anderen Einheiten, die einen begrenzten räumlichen Aktions­raum aufweisen, sind ein weit verbreiteter Unter­suchungs­gegenstand in den Natur-, Sozial- und Wirtschafts­wissenschaften.

HZDR / DE
 

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