31.03.2023

Who ordered that?

Lange galt das Myon als Exot, heute dient es zur Suche nach neuer Physik, wie in der neuen „Physik in unserer Zeit“ geschildert.

Die „Physik in unserer Zeit“ schrieb im Januar 1973: „Ein heuristisches Modell des Myons wurde 1972 von D. K. Ross entwickelt, welches das Myon als ein Elektron mit einem umkreisenden Teilchen mit Ruhemasse 0 und Spin 1, „Wavon“ genannt, betrachtet. Die Kreisbahn dieses Wavons befindet sich im stark gekrümmten Raum extrem nahe dem Elektron auf einer im Einklang mit der allgemeinen Relativitätstheorie stehenden Geodätenlinie. Mit Hilfe dieser Annahme konnte ein mit dem Messresultat übereinstimmender Massen­unterschied von Elektron und Myon berechnet werden.“

Abb.: Das Proton-Zyklotron am Paul Scherrer Institut, Villigen, Schweiz,...
Abb.: Das Proton-Zyklotron am Paul Scherrer Institut, Villigen, Schweiz, versorgt die weltweit stärkste Quelle für Myonen (Foto: PSI).

Doch die Geschichte des Myons besitzt einige Wendungen. 1936 entdeckten Carl Anderson und Seth Neddermeyer in der Höhen­strahlung das Myon und seinen Zerfall in ein Elektron. Bald zeigte sich, dass seine Eigenschaften es zum Geschwister des Elektrons machten. Wie Elektronen und Positronen fand man Myonen mit positiver und negativer elektrischer Ladung. Allerdings ist es etwa 206-mal schwerer und lebt nur 2,2 µs lang. „Who ordered that?“ fragte Isidor Rabi, weil das Myon überhaupt nicht in das damalige Bild der subatomaren Welt passte.

Es lag nahe, es als „verkleidetes“ Elektron aufzufassen. Das Modell von D. K. Ross, welches das Myon als Bindungs­zustand eines Elektrons mit einem hypothetischen neuen Teilchen beschreibt, war eine Möglichkeit. Eine andere Hypothese war, dass es ein angeregtes Elektron ist, welches sich schnell wieder abregt, unter Aussendung eines Photons mit einer Energie, die dem Massen­unterschied entspricht. Bis heute wird ein solcher Zerfall gesucht.

Ross’ Modell war bald widerlegt. 1975 wurde mit dem Tau ein noch schwereres Geschwister entdeckt, und damit war klar, dass eine Erklärung dieser Familienstruktur nicht auf das Myon beschränkt werden kann. Mit dem Charm und Bottom fand man damals auch schwerere Geschwister bekannter Quarks. Mit der Sonderrolle des Myons war es vorbei, dennoch wird es bis heute intensiv erforscht und liefert wertvolle Erkenntnisse über den Aufbau der Materie.

Die aus dem Myonzerfall resultierenden Elektronen zeigen eine Energie­verteilung wie im Betazerfall. Es müssen daher mehr Teilchen am Zerfall beteiligt sein. Wie beim Kern­betazerfall sind dies Neutrinos, die erst viel später als das Myon nachgewiesen werden konnten. Es zeigte sich, dass nicht nur die Leptonzahl – Elektronen, Myonen, Taus, Neutrinos und ihre Antiteilchen werden als Leptonen zusammengefasst – in allen Zerfalls­prozessen erhalten ist, sondern auch die Lepton-Familienzahl, also Elektronen und Elektron­neutrinos, Myon und Myonneutrinos. Der Myonzerfall, der von der schwachen Wechselwirkung verursacht wird, muss daher zwei Neutrinos aussenden, ein Elektron- und ein Myon-Neutrino.

Im Standardmodell der Teilchen­physik wird der Myonzerfall durch den Austausch eines Wechsel­wirkungs­teilchens, des W-Bosons, erklärt. Die Lebensdauer des Myons ist bisher unter allen Elementarteilchen am präzisesten gemessen. Die genaue Messung der Myon-Zerfallsparameter und ihrer Asymmetrien hat das Standardmodell der Teilchen­physik, welches das Myon wie das Elektron als punktförmiges Elementar­teilchen beschreibt, eindrücklich bestätigt.

Myonen werden heute als hochsensitive Proben verwendet, um nach Abweichungen von den Vorhersagen des Standard­modells der Teilchen­physik zu suchen, insbesondere nach Prozessen, in denen die Leptonzahlen nicht erhalten sind. Der oben erwähnte Zerfall des Myons in ein Elektron und Photon ist bis heute ein heißes Thema; derzeit ist er bereits mit einem Verhältnis von 1 zu 1013 ausgeschlossen. Intensiv gesucht wird auch nach dem verbotenen Zerfall eines Myons in drei Elektronen und der laut Standardmodell ebenfalls verbotenen neutrinofreien Umwandlung eines Myons in ein Elektron im Feld eines Kerns.Die hochpräzise Messung des magnetischen Moments des Myons sorgt immer wieder für Spannung und Diskussionen. Überdies ermöglicht es heute die Myon­spin­spektroskopie, Magnetfelder in Festkörpern auf atomarem Niveau zu bestimmen.

Viele der Eigenschaften und Wechselwirkungen der Myonen sind heute im Rahmen des Standard­modells der Teilchen­physik schon sehr genau verstanden. Warum es aber Myonen und die weiteren schweren Geschwisterteilchen überhaupt gibt und woher die Familien­struktur der fundamentalen Teilchen des Standard­modells kommt, bleibt bis dato ein großes Rätsel der Teilchenphysik.


Bernhard Lauss, Adrian Signer, Paul Scherrer Institut, Villigen, Schweiz

 

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