11.06.2020 • Biophysik

Physikalisches Konzept erklärt Schwarmverhalten

Zusammenhang zwischen Kollektivverhalten und Kritikalität nachgewiesen.

Neue experimentelle Ergebnisse von Forschern der Uni Konstanz stützen die bislang umstrittene These, dass ein Zusammen­hang zwischen einem physika­lischen Konzept – dem kritischen Punkt – und dem charakteristischen Gruppenverhalten von Tieren besteht. Physiker des Exzellenz­clusters „Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour“ wiesen nach, dass licht­gesteuerte Partikel, Mikro­schwimmer genannt, dazu gebracht werden können, sich in kollektiven Zuständen wie Schwärmen und Wirbeln zu organi­sieren. Die Analysen, wie die Partikel spontan von einem Zustand in den anderen hin- und herwechseln, liefern Hinweise für kritisches Verhalten von Kollektiven. Sie unter­mauern zugleich die Annahme, dass dem komplexen Verhalten von Kollek­tiven ein allgemeines physika­lisches Prinzip zugrunde liegen könnte.

Abb.: Um einen Wirbel zu formieren, muss ein aktiver Partikel (rot) die...
Abb.: Um einen Wirbel zu formieren, muss ein aktiver Partikel (rot) die Positionen und Ausrichtungen seiner Nachbarn innerhalb seines „Gesichtsfelds“ erfassen und sich entsprechend bewegen. (Bild: T. Bäuerle, U. Konstanz)

Tiergruppen besitzen die scheinbar wider­sprüch­liche Eigen­schaft, in ihrer Gruppen­formation sowohl stabil als auch flexibel zu sein. Ein gutes Beispiel hierfür ist ein Fisch­schwarm: Hunderte von Individuen in perfekter Ordnung und gleich­förmiger Ausrichtung können in Sekunden­schnelle wie ein Wirbel­sturm ausein­ander­driften, um einem räuberischen Angriff auszu­weichen. Tier­gruppen müssen eine empfindliche Balance bewahren, einer­seits bei geringen Stör­faktoren wie Strudel oder Windböen in ihrer Formation stabil zu bleiben, anderer­seits reaktions­fähig zu sein gegen­über entschei­denden Ereignissen wie der Annäherung eines Fressfeindes.

Wie ihnen dieser Spagat gelingt, ist noch nicht verstanden. In den vergangenen Jahren wurde aller­dings diskutiert, ob das Verhalten in Verbindung mit einem kritischen Phasen­übergang gebracht werden kann. Da dieses physika­lische Konzept einer­seits die Stabilität, aber auch den spontanen Wechsel zwischen den Zuständen erklärt, ist es nahe­liegend zu vermuten, dass die Natur dieses Konzept auch auf biolo­gische Systeme anwendet.

„Die Kombination von Stabilität und hoher Reaktions­fähig­keit auf äußere Störungen ist genau das, was einen kritischen Punkt kennzeichnet“, sagt Clemens Bechinger von der Uni Konstanz. „So war es für uns folge­richtig zu unter­suchen, ob das Modell der Kriti­ka­lität auch jene Muster erklären kann, die wir im Verhalten von Kollektiven beobachten können.“

Die Hypothese, dass sich kollektive Zustände nahe an einem kritischen Punkt befinden, wurde in der Vergangen­heit haupt­sächlich durch numerische Simula­tionen gestützt. Mit ihrer neuen Studie haben Bechinger und sein Team nun die mathe­matische Vorher­sage experi­mentell unter­mauert. „Unsere Forschungs­ergebnisse zeigen einen engen Zusammen­hang zwischen kollek­tiven Prozessen und kritischen Phänomenen. Sie tragen nicht nur zum grund­sätz­lichen Verständnis kollek­tiver Zustände bei, sondern legen darüber hinaus auch nahe, dass allgemeine physika­lische Prinzipien auch auf lebende Systeme anwendbar sind“, so Bechinger.

In ihren Experimenten verwendeten die Forscher kleinste Glaspartikel, die auf einer Seite mit einer Kohlen­stoff­kappe beschichtet und in eine viskose Flüssig­keit gegeben wurden. Wenn diese Partikel mit Licht angestrahlt werden, schwimmen sie in ähnlicher Weise wie Bakterien, jedoch mit einem wichtigen Unter­schied: Jeder Aspekt, wie die Partikel in ihrer Bewegung auf ihre Nachbarn reagieren, kann präzise gesteuert werden. Da Inter­aktions­regeln von lebenden Organismen nur begrenzt kontrol­lierbar sind, ermöglichen diese Systeme es den Wissen­schaftlern, Zusammen­hänge zwischen der Art und Weise, wie Individuen aufein­ander reagieren, und deren kollek­tives Verhalten zu unter­suchen. „Wir entwerfen die Regeln zunächst am Computer und beobachten anschließend im Experiment, wie sich diese Regeln auf das Gruppen­verhalten der Teilchen auswirkt“, so Bechinger.

Um sicherzustellen, dass das physika­lische System eine Vergleich­barkeit zu lebenden Systemen aufweist, gaben die Forscher den Partikeln Inter­aktions­regeln, die das Verhalten von Tieren wider­spiegeln. So legten sie beispiels­weise fest, dass sich einer­seits die Bewegungs­richtungen der einzelnen Partikel ihren Nachbarn anpassen. Anderer­seits wurden die Teilchen so program­miert, dass sie versuchen, sich ungefähr in Richtung des Gruppen­mittel­punktes zu bewegen. In Abhängig­keit des relativen Gewichts dieser beiden Inter­aktions­regeln formierten sich die Partikel in Wirbeln oder als ungeordnete Schwärme. Werden die Inter­aktions­regeln nur gering­fügig verändert, lassen sich schnelle Über­gänge zwischen einem Wirbel und einem Schwarm beobachten. „Ein solcher Wechsel zwischen verschie­denen kollek­tiven Zuständen ist ein deutlicher Hinweis auf ein kritisches Verhalten“, so Bechinger.

Die Studie zeigt einen Zusammen­hang zwischen Kollek­tivität und kritischem Verhalten in lebenden Systemen und gibt zugleich Hinweise, wie Schwarm­intelligenz für konkrete Anwendungen technisch umgesetzt werden kann. Die Forschungs­ergebnisse könnten unter anderem dazu beitragen, effiziente Verfahren für autonome Mikro­robotik­geräte mit einge­bauten Steuerungs­einheiten zu entwickeln. Solche Mikro­robotik­geräte müssen sich in ähnlicher Weise wie ihre biologischen Gegen­stücke spontan an sich ändernde Umwelt­bedingungen anpassen können und mit unvorher­gesehenen Situationen fertig werden. Das könnte erreicht werden, indem man ihre Funktions­weise gemäß des Prinzips des kritischen Punktes ausrichtet.

U. Konstanz / RK

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