24.06.2022

Neutronen im Viererpack

Lang gesuchtes Tetra-Neutron entdeckt – das erste gebundene Teilchen, das nur aus Neutronen besteht.

Ein internationales Forschungsteam hat nach sechzig Jahren vergeblicher Suche erstmals einen neutralen Kern entdeckt – das Tetra-Neutron. Der Kollaboration gelang es, ein isoliertes Vier-Neutronen-System mit geringer kinetischer Relativenergie in einem Volumen entsprechend eines Atomkerns zu erzeugen. Die Forscher überwanden die experimentelle Heraus­forderung durch den Einsatz einer neuen Methode: Dabei wurden ein radio­aktiver neutronen­reicher He-8-Strahl und eine schnelle hoch­energetische Reaktion mit einem Proton eingesetzt.

 

Abb.: Florian Dufter integriert das Flüssigwasserstofftarget (li.) in die von...
Abb.: Florian Dufter integriert das Flüssigwasserstofftarget (li.) in die von ihm konstruierte Vakuumkammer des Siliziumdetektors (re.). (Bild: R. Gernhäuser / TUM)

Das Experiment wurde an der Beschleuniger­anlage für radio­aktive Strahlen (RIBF) am RIKEN-Forschungs­zentrum in Japan durchgeführt. Beteiligt an der großen internationalen Kollaboration waren neben der Technischen Universität München (TUM) und des Exzellenzclusters Origins auch Wissenschaftler der TU Darmstadt, des RIKEN Nishina Centers sowie des GSI Helmholtz­zentrums für Schwer­ionen­forschung in Darmstadt. Das Experiment lieferte ein zweifel­freies Signal für die erste Beobachtung des Tetra-Neutrons.

Die Bausteine von Atomkernen sind die Nukleonen, die in zwei Arten vorkommen, den neutralen Neutronen und den positiv geladenen Protonen – den beiden Isospin-Zuständen des Nukleons. Gebundene Kerne, die ausschließlich aus Neutronen aufgebaut sind, wurden bisher noch nie eindeutig nachgewiesen. Die einzigen bekannten gebundenen Systeme, die fast ausschließlich aus Neutronen bestehen, sind die Neutronensterne. Dabei handelt es sich um Endstadien der Stern­entwicklung mit einem typischen Durch­messer von etwa zehn Kilometern. Diese Sterne sind stabil durch die enorme Gravitation, die zu einer sehr hohen Neutronendichte im Inneren der Sternleichen führt. Atomkerne wiederum sind durch die starke Wechsel­wirkung gebunden, mit der Präferenz eine vergleichbare Zahl an Neutronen und Protonen zu binden – das ist bekannt von den stabilen Kernen, wie sie auf unserer Erde zu finden sind.

Die Erforschung von reinen Neutronen-Systemen ist aber von großer Bedeutung, da sich nur so experimentelle Erkenntnisse über die Wechsel­wirkung mehrerer Neutronen untereinander und damit über die nukleare Wechsel­wirkung gewinnen lassen. Die Erforschung der bisher hypothetischen Teilchen könnte zudem helfen, die Eigenschaften von Neutronensternen besser zu verstehen. Heraus­zufinden, ob solche Neutronen-Systeme als Resonanz­zustände oder gar gebundene Kerne vorliegen, ist daher ein seit langem bestehendes Bestreben der Kernphysik. Das internationale Team von Wissenschaftlern hat dazu nun einen neuen Anlauf genommen und eine neue experimentelle Methode eingesetzt, die sich von allen bisherigen Versuchen unterscheidet.

Abb.: Schematische Darstellung der Reaktions-Kinematik im Labor- und...
Abb.: Schematische Darstellung der Reaktions-Kinematik im Labor- und Schwer­punkts-System (Bild: M. Duer et al.)

„Dieser experimentelle Durchbruch liefert einen Referenzwert für die Theorie zum Verständnis der Wechselwirkungen von Isospin-reinen Nukleonen-Verbünden und damit auch der Eigenschaften neutronen­reicher Kerne. Die nukleare Wechselwirkung zwischen mehr als zwei Neutronen konnte bisher nicht experimentell geprüft werden, während theoretische Vorhersagen zu sehr verschiedenen Ergebnissen führen“, berichtet Meytal Duer vom Institut für Kernphysik der TU Darmstadt.

Die experimentelle Untersuchung von reinen Neutronen-Systemen stellt eine große Herausforderung dar, da es keine Möglichkeit gibt, ein Neutronen-Target herzustellen. Um nun ein Multi-Neutronen-System in einem Volumen zu erzeugen, so dass die Neutronen untereinander über die kurz­reichweitige Kernkraft von wenigen Femtometern in Wechselwirkung treten können, müssen Reaktionen eingesetzt werden. Dabei besteht die Gefahr, dass die Neutronen mit anderen Teilchen, die an der Reaktion beteiligt sind, im Endzustand wechselwirken, was wiederum das eigentliche Signal verändert oder unsichtbar macht. Die Forscher haben diese Schwierigkeit durch den Einsatz eines hoch­energetischen He-8-Strahls gelöst. Der Kern von He-8 besteht aus einem kompakten Alpha-Teilchen, das von vier Neutronen umgeben wird. Das Alpha-Teilchen wird nun in einer schnellen Reaktion mit großem Impulsübertrag durch Stoß mit einem Proton des Flüssig­wasserstoff-Targets aus dem He-8-Kern herausgeschossen: Die verbleibenden vier Neutronen sind plötzlich frei und alleine und können untereinander wechselwirken.

„Nur eine optimale Verbindung unterschiedlicher Faktoren haben die erfolgreiche Entdeckung des Tetra-Neutrons möglich gemacht. Da ist die geniale Idee, genau die richtige Reaktion zu wählen, die weltweit leistungs­fähigste Anlage für leichte exotische Strahlen, ein Experimentaufbau, der genau für diese Reaktion entwickelt und optimiert wurde, und nicht zuletzt ein Team aus begeisterten Wissenschaftlern die sich zu hundert Prozent mit der Aufgabe identifizieren“, führt Roman Gernhäuser vom Zentralen Technologie­labor am Physik Department der TUM aus.

Exzellenzcluster Origins / DE

 

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