19.06.2019

Materialforschung mit Durchblick

Umfangreiche Förderung für neue Experimente an den Röntgenquellen des DESY.

Welche Eigenschaften Materialien haben, entscheidet sich im Kleinen: Die Anordnung und das Verhalten von Atomen bestimmen die Merkmale von Materialien. Insbesondere an ihren Oberflächen laufen entscheidende Prozesse auf der Nanoskala ab. Um diese Vorgänge zu verstehen, benötigen Wissenschaftler Untersuchungsmethoden, mit denen sie bis in atomare Dimensionen vordringen können. Zum Beispiel intensives Röntgenlicht, wie es an den Teilchenbeschleunigern des Forschungszentrums DESY oder am weltweit leistungsstärksten Röntgenlaser European XFEL erzeugt wird. An der Weiterentwicklung dieser Methoden forschen seit langem auch Physiker der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU). Ihnen hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) jetzt gleich vier Verbundprojekte bewilligt. Sie könnten wichtige Grundlagen schaffen für maßgeschneiderte Quantenmaterialien, neue Elektroden in Brennstoffzellen, eine kontrollierte Freisetzung von Medikamenten oder das Verständnis chemischer Reaktionen. Ab dem 1. Juli 2019 erhalten die Projekte insgesamt rund 2,5 Millionen Euro für drei Jahre, wie das BMBF jetzt bekannt gab.
 

Abb.: Quantenmaterialien atomgenau herstellen und mit den einzigartigen...
Abb.: Quantenmaterialien atomgenau herstellen und mit den einzigartigen Experimenten des DESY optimieren – so sollen neuartige Eigenschaften wie verlustfreier Stromtransport besser verstanden werden. (Bild: AG Rossnagel)

Die bewilligten Projekte aus dem Institut für experimentelle und angewandte Physik sind im Ruprecht-Haensel-Labor auf dem Gelände des Deutschen Elektronen Synchrotrons (DESY) in Hamburg angesiedelt. In dem Labor, das CAU und DESY gemeinsam betreiben, entwickeln Wissenschaftler neue Instrumente und experimentelle Methoden mit besonders intensiver Röntgenstrahlung und nutzen sie für ihre Forschung. Diese Experimentiermöglichkeiten stellen sie im Anschluss auch anderen Forschungsgruppen zur Verfügung. Der Name des Labors geht mit Ruprecht Haensel auf einen der bedeutendsten Pioniere der Forschung mit Synchrotronstrahlung zurück. Von 1996 bis 2000 war Haensel Rektor der CAU. 

„Diese vier Förderungen sind das Ergebnis langjähriger und erfolgreicher Forschungskooperationen. Sie stärken nicht nur die Kieler Nanowissenschaften und Oberflächenforschung, sondern auch den Forschungsstandort Norddeutschland“, gratuliert CAU-Präsident Lutz Kipp den Kolleginnen und Kollegen. „Nur durch eine enge Zusammenarbeit wie in solchen Projekten können wir die Entwicklungen in der Materialforschung, der Mikroelektronik und den Lebenswissenschaften vorantreiben.“

Beim Projekt HESEC geht es um neue Methoden für die Energieforschung. Im Zuge der Umstellung auf eine nachhaltige Energieerzeugung werden Prozesse der elektrochemischen Energieumwandlung zunehmend mehr erforscht. Sie finden zum Beispiel an Elektroden in Brennstoffzellen statt, an denen die in Wasserstoffgas gespeicherte Energie direkt in elektrischen Strom umgewandelt wird. Was dabei an der Grenzfläche zwischen Festkörper und Flüssigkeit passiert, will das Forschungsteam um Olaf Magnussen, Professor für Festkörperphysik an der CAU, mit besonders hochenergetischer Röntgenstrahlung untersuchen. Dazu entwickeln sie spezielle Streumethoden, die in der neuen Ada Yonath Erweiterungshalle des PETRA III Synchrotrons am DESY eingesetzt werden sollen. „Mit diesen Methoden sind wir in der Lage, Atom für Atom zu beobachten, wie sich die Oberflächen der Elektroden während solcher chemischen Reaktionen verändern“, erklärt Magnussen. „So können wir Katalysatoren oder Brennstoffzellen besser verstehen und optimieren.“ Ihre Erkenntnisse könnten die Grundlage sein für neue langlebigere Elektrodenmaterialien und Verfahren, um aus überschüssigem Windstrom Wasserstoff und Kraftstoffe direkt herzustellen. 

Bridget Murphy von der Arbeitsgruppe Grenzflächenphysik erforscht mit dem Projekt LISA Dynamics die besonderen Grenzflächen zwischen Flüssigkeiten und Gasen. Ihre Funktionsweise steuern zu können, ist wichtig für Anwendungen wie in der molekularen Elektronik. In den vergangenen Jahren hat Murphy an der Röntgenstrahlquelle PETRA III am DESY zusammen mit Magnussen ein Experiment mit intensivem Röntgenlicht entwickelt (Röntgendiffraktometer LISA), um die Bewegung von Atomen zu untersuchen. Dafür werden sie mit einem Hochleistungslaser angeregt und ihre Bewegung über die Streuung ultrakurzer Röntgenpulse verfolgt. „Jetzt können wir das Experiment weiterentwickeln und die Grenzflächen von Flüssigkeiten zum ersten Mal über alle Zeitskalen hinweg untersuchen“, erklärt die Projektleiterin, „also von Sekunden bis Femtosekunden, einer Billiardstel Sekunde“. Da diese Grenzflächen häufig im menschlichen Körper vorkommen, könnten die neuen Erkenntnisse auch einen wichtigen Beitrag für die Lebenswissenschaften leisten, zum Beispiel um die Funktion von Zellmembranen oder die kontrollierte Freisetzung von Medikamenten besser zu verstehen. 

Zusammen mit Kollegen von der Universität Würzburg und des DESY will Kai Rossnagel, Professor für Festkörperforschung mit Synchrotronstrahlung an der CAU und leitender Wissenschaftler am DESY, neuartige Materialien mit einzigartigen elektronischen Eigenschaften aus komplexen dünnen Schichten herstellen. „Die Proben, die wir am DESY untersuchen möchten, sind sehr empfindlich und bestehen teilweise nur aus einer einzigen Atomlage, die bei einem Transport aus Kiel stark verunreinigt werden würde“, erläutert Rossnagel. In dem neuen Projekt QM-MBE-SXPES sollen qualitativ hochwertige Proben in unmittelbarer Nähe zu den Forschungsanlagen des DESY hergestellt werden. Mit den dort vorhandenen, einzigartigen Untersuchungsmethoden wie der Photoelektronenspektroskopie werden die elektronischen, magnetischen und optischen Materialeigenschaften bestimmt. Anhand der Ergebnisse soll die Herstellung der Materialien vor Ort gezielt optimiert werden. Diese maßgeschneiderten Quantenmaterialien könnten völlig neue technologische Möglichkeiten eröffnen, wie beispielsweise den verlustfreien Transport von elektrischem Strom.

In einem zweiten Förderprojekt namens XFEL-k-Spin-multi-D baut Rossnagel zusammen mit Kollegen der Universitäten Mainz und Duisburg-Essen sowie einem über vierzigköpfigen internationalen Konsortium ein eigenes Experiment am European XFEL auf. In der Forschungsanlage im schleswig-holsteinischen Schenefeld werden ultrakurze Laserlichtblitze im Röntgenbereich erzeugt. Mit einer ultraschnellen Kamera will Rossnagel die Bewegung von Photoelektronen in Materialien und bei chemischen Reaktionen in Echtzeit filmen und auswerten. „Damit können wir zum ersten Mal alle Daten erfassen, die das Signal der Photoelektronen enthält – das ist bisher nicht möglich gewesen. So bekommen wir ein umfassendes Bild von den Eigenschaften der untersuchten Materialien“, so Rossnagel. Mit einer zeitlichen Auflösung im Femtosekundenbereich, was einer Bildwiederholrate von fast einer Billiarde Bildern pro Sekunde entsprechen würde, lassen sich beispielsweise Phasenübergänge wie das Schmelzen oder Verdampfen sowie chemische Reaktionen auf atomarer Ebene „live“ beobachten. 

CAU / DE
 

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