22.03.2022

Einstein-de-Haas-Effekt mit Zwischenschritt

Drehimpulsübertrag bei ultraschneller Entmagnetisierung aufgeschlüsselt.

In einem geschlossenen physikalischen System bleibt die Summe aller Drehimpulse konstant – ein fundamentaler Erhaltungs­satz. Dabei müssen die Drehimpulse nicht notwendigerweise „echte“ Drehungen sein: Magnetische Materialien besitzen wegen des Spins selbst dann einen Drehimpuls, wenn sie von außen betrachtet ruhen. Das konnten die Physiker Albert Einstein und Wander Johannes de Haas bereits 1915 nachweisen.

 

Abb.: Bei der ultraschnellen Entmagnetisierung führt die Drehung der...
Abb.: Bei der ultraschnellen Entmagnetisierung führt die Drehung der magnetischen Momente zu einer sofortigen Rotations­bewegung der Atome. (Bild: H. Lange, A. Donges, U. Nowak, U. Konstanz)

Wird nun ein derart magnetisiertes Material mit kurzen Pulsen aus Laserlicht beschossen, so verliert es extrem schnell seine magnetische Ordnung. Innerhalb von Femtosekunden wird es entmagnetisiert. Der Spin der Elektronen im Material nimmt somit schlagartig ab, viel schneller als sich das Material in Drehung versetzen kann. Nach dem Erhaltungssatz darf der Drehimpuls jedoch nicht einfach verloren gehen. Wohin also überträgt sich der Drehimpuls der Elektronen in so extrem kurzer Zeit?

Die Lösung dieses Rätsels wurde jetzt veröffentlicht. In der Studie untersuchte ein Team unter Konstanzer Führung die Entmagnetisierung von Nickelkristallen mithilfe der ultraschnellen Elektronen­beugung – einem zeitlich und räumlich hochpräzisen Messverfahren, das den Verlauf struktureller Veränderungen auf atomarer Ebene sichtbar machen kann. Sie konnten zeigen, dass die Elektronen des Kristalls ihren Drehimpuls bei der Entmagnetisierung binnen weniger hundert Femtosekunden auf die Atome des Kristall­gitters übertragen. Ganz ähnlich wie die Passagiere eines Karussells werden die Atome auf winzigen Kreisbahnen in Bewegung versetzt und gleichen so die Drehimpulsbilanz aus. Erst viel später und langsamer beginnt der nach Einstein und de Haas benannte, makroskopische Dreheffekt, der mechanisch gemessen werden kann. Diese Erkenntnisse zeigen neue Wege auf, wie sich Drehimpulse extrem schnell kontrollieren lassen, und eröffnen damit neue Möglichkeiten zur Verbesserung magnetischer Informations­technologien oder neue Forschungs­richtungen in der Spintronik.

Magnetische Phänomene sind aus der modernen Technik nicht mehr wegzudenken. Sie spielen insbesondere in der Informations­verarbeitung und der Speicherung von Daten eine wichtige Rolle. „Die Geschwindigkeit und Effizienz bestehender Technologien wird dabei häufig durch die vergleichsweise lange Dauer magnetischer Schaltvorgänge begrenzt“, erklärt Peter Baum, Experimentalphysiker an der Universität Konstanz und einer der Studienleiter. Umso interessanter für die Materialforschung ist daher ein überraschendes Phänomen, das unter anderem in Nickel zu beobachten ist: eine ultraschnelle Entmagnetisierung durch den Beschuss mit Laserpulsen.

Genau wie Eisen gehört Nickel physikalisch betrachtet zu den ferromagnetischen Materialien. Die dauerhafte Magnetisierung entsteht dabei durch eine gleichgerichtete Anordnung der magnetischen Momente benachbarter Teilchen des Materials. „Zur Veranschaulichung können wir uns die magnetischen Momente wie kleine Pfeile vorstellen, die alle in dieselbe Richtung weisen“, verbildlicht Ulrich Nowak, theoretischer Physiker an der Universität Konstanz und ebenfalls einer der Projektleiter. Physikalisch steckt hinter diesen „Pfeilen“ und ihrer Richtung vor allem der Drehimpuls oder Spin der Elektronen des ferromagnetischen Materials.

Durch den Beschuss mit Laserlicht kann die perfekte Ausrichtung der magnetischen Momente binnen kürzester Zeit zerstört werden. „Dazu reicht ein Laserpuls von unter 100 Femtosekunden Dauer. Solche Laserpulse gehören zu den kürzesten menschen­gemachten Ereignissen, die es gibt“, erklärt Ulrich Nowak und fährt fort: „Der Laserpuls erhitzt das Material derart stark, dass die ‚Pfeile‘ – um im Bild zu bleiben – durcheinandergewirbelt werden. Am Ende zeigt die eine Hälfte in die eine und die zweite Hälfte in die andere Richtung.“

An dieser Stelle kommt der Drehimpuls-Erhaltungssatz ins Spiel, denn so ändert sich der Spin der Elektronen und damit der Drehimpuls. Da die Summe aller Drehimpulse im Material jedoch erhalten bleiben muss, kann der Spin nicht einfach verschwinden. Wie das innerhalb von Femtosekunden geschehen kann, war bislang unklar und es gab lediglich widersprüchliche theoretische Überlegungen dazu.

Um das physikalische Rätsel zu lösen, brauchte es die enge Zusammenarbeit zwischen Theoretikern und Experimentalphysikern: Ausgehend von einer Hypothese der beiden Konstanzer Professoren Peter Baum und Ulrich Nowak erarbeitete ein Team aus der theoretischen Physik zunächst mit Hilfe von Computer­simulationen eine Reihe von Vorhersagen über mögliche atomare Bewegungen während der ultraschnellen Entmagnetisierung. Die Experimentalphysiker überprüften diese Vorhersagen anschließend durch Experimente mit Femtosekundenlasern und ultrakurzen Pulsen aus Elektronen. Die untersuchten ultradünnen Nickel­kristalle kamen vom Team von Wolfgang Kreuzpaintner von der Technischen Universität München.

„Für unser Experiment haben wir einen Kristall aus Nickel zunächst in eine bestimmte Richtung magnetisiert, um ihn anschließend mit einem Femtosekunden-Laserpuls ultraschnell zu entmagnetisieren“, schildert Peter Baum den Grundaufbau des Experiments. Währenddessen beobachteten die Forscher um Sonja Tauchert den Kristall mithilfe der ultraschnellen Elektronen­beugung. Diese Methode erlaubt es, Informationen über die zeitlichen Veränderungen in der Struktur von Materialien zu gewinnen – und das mit atomarer räumlicher Präzision und einer zeitlichen Auflösung im Femtosekunden­bereich. Die entstehenden Sequenzen von Beugungsmustern – atomare Zeitlupen­aufnahmen der Entmagnetisierung – konnten dann anhand der computer­gestützten Vorhersagen der Theoretiker interpretiert werden.

„Unsere Experimente und Simulationen ergaben, dass sich der Drehimpuls der Elektronen auf derselben Zeitskala, auf der die magnetische Ordnung des Kristalls verloren geht, lokal auf die Atome des Kristallgitters überträgt“, erklärt Ulrich Nowak. Die Atome beginnen zunächst vereinzelt, sich auf kreisförmigen Bahnen um ihre ursprünglichen Ruhelage zu bewegen. Durch Wechsel­wirkung mit benachbarten Atomen wird diese Bewegung und damit der Drehimpuls sehr schnell auf alle weiteren Atome übertragen. Am Ende gerät das gesamte Kristall­gitter in eine Schwingung aus kleinsten Kreisbahnen – eine kollektive phononische Gitter­schwingung. Im geschilderten, speziellen Fall sind diese Phononen zirkular polarisiert und tragen daher einen Drehimpuls.

„Damit wurde nicht nur ein altes Rätsel der Festkörper­physik gelöst, sondern zeitgleich der experimentelle Nachweis geführt, dass polarisierte Gitterschwingungen tatsächlich einen Drehimpuls transportieren können, und zwar effektiv und ultraschnell“, berichtet Peter Baum. „Der Einstein-de-Haas-Effekt hat einen atomaren Zwischenschritt“, fügt er hinzu. Derartige Effekte könnten genutzt werden, um magnetische Materialien mittels Laserlicht zu kontrollieren und möglicherweise effizientere Alternativen zur herkömmlichen Elektronik zu schaffen. „Unsere Hoffnung ist, dass wir dadurch in Zukunft verbesserte Bauteile herstellen können. Anders als die jetzigen Elektronik­komponenten würden diese – anstatt mit Ladungstransport – dann mit Spintransport arbeiten, was deutlich energie­effizienter wäre“, erklärt Ulrich Nowak. „Mit dem Nachweis, dass Gitter­schwingungen einen Spin transportieren können, eröffnen wir einen neuen, möglicherweise vielversprechenden Weg zu neuartigen Bauelementen in der Spintronik.“

U. Konstanz / DE
 

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