15.03.2021

Der Molekülzähler

Vor 200 Jahren wurde Josef Loschmidt geboren, der vor allem für seine grundlegenden Arbeiten zur Größe und Zahl von Teilchen in einem Gas bekannt ist.

Die Erkenntnis, dass Benzol eine ringförmige Struktur hat, wurde lange Zeit August Kekulé zugeschrieben. Tatsächlich kam ihm Josef Loschmidt vier Jahre zuvor. Seine Arbeit war jedoch vielen nicht bekannt, weil der Lehrer an einer Wiener Realschule sie auf eigene Kosten publiziert hatte. Nochmals vier Jahre später, gelang ihm 1865 ein weiterer großer Wurf: Er berechnete die Teilchenzahl in einem Gas unter Standardbedingungen. So war dem über 40-jährigen doch noch eine akademische Laufbahn vergönnt.

Josef Loschmidt wurde am 15. März 1821 in einem kleinen Dorf nahe Karlsbad im heutigen Tschechien geboren. Er kam aus einfachen Verhältnissen und verdankte dem Dorfpfarrer, der seine Begabung erkannte, dass er eine Klosterschule besuchen durfte. Nach dem Abschluss des Obergymnasiums in Prag begann er an der dortigen Universität ein Studium der Mathematik und Philosophie. 1842 wechselte er an die Universität Wien, um Chemie und Physik zu studieren. Er promovierte 1846 am Polytechnischen Institut in Wien.

Johann Josel Loschmidt (1821 – 1895)
Johann Josel Loschmidt (1821 – 1895)

Da es ihm nicht gelang, einen Lehrauftrag an der Universität zu erhalten, erwog er, nach Texas auszuwandern, suchte sich dann aber eine Stellung in der Industrie. Zunächst arbeitete er in einer Stahlfabrik, dann gründete er 1847 mit einem Freund eine Firma zur Herstellung von Kalisalpeter aus Chilesalpeter nach einem selbst entwickelten Verfahren.

Wegen der Inflation während der ungarischen Revolution 1850 und der von der Regierung festgesetzten Preise für Schießpulver ging die Fabrik bankrott. Nach Stationen als Leiter einer Papierfabrik in der Steiermark sowie Anstellungen in Böhmen und Brünn entschloss sich Loschmidt 1856 nach Wien zurückzukehren. Dort unterrichtete er Physik, Chemie und Mathematik an einer Realschule und forschte in seiner Freizeit in dem Labor, das die Schule ihm zur Verfügung stellte.

Fünf Jahre später, 1861, veröffentlichte er seine „Chemischen Studien I“, die zwei Schriften enthielten. In „Constitutions-Formeln der Organischen Chemie“ beschäftigte er sich mit der Wertigkeit bestimmter Elemente und leitete daraus Strukturformeln ab.

Der amerikanische Chemiker Alfred Bader hat darauf hingewiesen, dass Loschmidts Strukturformeln für Ethan, Ethylen und Acetylen (mit einfachen, doppelten und dreifachen Kohlenstoffbindungen) große Ähnlichkeit mit den heute durch Computer-Simulationen errechneten Strukturen haben. In dieser Arbeit schlug Loschmidt auch die Ringstruktur für das Benzol vor. Bader zeigt, dass Kekulé diese Arbeiten kannte, denn er erwähnt sie mit einer Fußnote, in der er Loschmidt „Chemische Confusion“ vorwirft. Kekulés Behauptung, er habe die Struktur „geträumt“ muss daher ins Reich der Legenden verwiesen werden.

Loschmidt hat sich nie auf einen Prioritätenstreit mit Kekulé eingelassen. Er war einerseits ein bescheidener Mann, andererseits konnte er sich als Realschullehrer keine großen Chancen ausrechnen. Als kluger und vielseitig interessierter Kopf wandte er sich anderen Themen zu. Er pflegte einen regelmäßigen Austausch mit Josef Stefan, der auch Lehrer an einer Wiener Oberrealschule gewesen war, bevor er 1863 eine Physikprofessur an der Universität Wien erhielt. Stefan beschäftigte sich mit der Thermodynamik von Gasen und mag Loschmidt zu dessen Arbeit „Zur Größe der Luftmoleküle“ angeregt haben, die 1865 in den Sitzungsberichten der Akademie der Wissenschaft Wien erschien.

In dieser Arbeit gelang es Loschmidt als erstem, mithilfe der kinetischen Gastheorie den Durchmesser von Molekülen abzuschätzen. Er benutzte dazu die berechnete mittlere freie Weglänge von Gasteilchen und die Dichte von verflüssigten Gasen. Das war eine beachtliche Leistung zu einer Zeit, in der die Existenz von Molekülen noch nicht einmal allgemein anerkannt war. Ausgehend von dieser Schätzung konnte Loschmidt auch die Zahl der Moleküle berechnen, die sich unter Standardbedingungen in einem Liter Gas befinden. Amedeo Avogadro hatte bereits 1811 postuliert, dass diese Zahl für alle Gase gleich sein muss. Deshalb nennt man sie heute in englischsprachigen Ländern auch Avogadro-Zahl.

Dank dieser Arbeit konnte Loschmidt sich – auf Josef Stefans Fürsprache – ein Jahr später habilitieren. 1868 wurde er außerordentlicher Professor, bevor er von 1872, im Alter von 51 Jahren, schließlich zum ordentlichen Professor für Physikalische Chemie an der Universität Wien ernannt wurde. 1870 war er in die Wiener Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden.

1873 wurde Ludwig Boltzmann auf das Ordinariat für Mathematik an der Universität Wien berufen. Loschmidt freundete sich mit dem 20 Jahre jüngeren Kollegen an. Boltzmann beschäftigte sich damit, den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik aus der kinetischen Gastheorie herzuleiten. Seine Diskussionen mit Loschmidt hatten laut Alfred Bader wesentlichen Einfluss auf Boltzmanns Ansatz, die Entropie als den Übergang von einem unwahrscheinlichen zu einem wahrscheinlichen Zustand zu beschreiben (S = k ln W).

Spät, im Alter von 66 Jahren heiratete Loschmidt seine langjährige Lebensgefährtin und Haushälterin, die 25 Jahre jüngere Caroline Mayr. Mit ihr hatte er eine uneheliche Tochter. Der Sohn, der dem Paar 1887 geboren wurde, starb im Alter von 11 Jahren. Er überlebte den Vater, der 1895 starb, um drei Jahre. Boltzmann nannte das Werk des Freundes in seinem Nachruf einen Eckstein, der sichtbar sein wird, solange es die Wissenschaft gibt. Loschmidts außerordentliche Bescheidenheit habe verhindert, dass er zu Lebzeiten die angemessene Würdigung erfahren habe.

Anne Hardy

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