01.12.2022

Den Magnetsinn entschlüsseln

Oldenburger Sonderforschungsbereich zur Magnetorezeption erhält Anschlussförderung.

Die erstaunlichen Navigationsleistungen von Vögeln, Fledermäusen und Fischen und ihre Fähigkeit, sich am Magnetfeld der Erde zu orientieren, stehen seit vier Jahren im Mittelpunkt des Sonder­forschungs­bereichs (SFB) „Magnetrezeption und Navigation in Vertebraten“ an der Universität Oldenburg. Die Deutsche Forschungs­gemeinschaft (DFG) hat dem Vorhaben nun erneut Mittel bewilligt: Bis zu 9,2 Millionen Euro erhält das von Henrik Mouritsen geleitete Projekt von 2023 bis 2026 für die zweite Phase. Der SFB mit dem offiziellen Titel „Magnet­rezeption und Navigation in Vertebraten: von der Biophysik zu Gehirn und Verhalten“ erforscht das Orientierungs­vermögen von Wirbeltieren auf allen Ebenen.

 

Abb.: Das Eiweiß Cryptochrom 4 (die gelbliche Substanz im Röhrchen) ist...
Abb.: Das Eiweiß Cryptochrom 4 (die gelbliche Substanz im Röhrchen) ist magnetisch sensitiv. Die Forscher stellen das Protein, das in der Netz­haut von Zug­vögeln vorkommt, mit Bakterien­kulturen her. (Bild: U. Oldenburg / C. Kuhaupt)

An dem Großprojekt, dessen Gesamtlaufzeit auf zwölf Jahre angelegt ist, sind neben der Universität Oldenburg das Institut für Vogel­forschung „Vogelwarte Helgoland“ (IfV) in Wilhelmshaven, die Freie Universität Berlin, die Universität Bochum und das Weizmann Institute of Science in Rehovot (Israel) beteiligt. Drei Forscher von der University of Oxford (Großbritannien) sind dem SFB als Mercator Fellows angeschlossen.

„Um beim Verständnis des Magnetsinns einen Durchbruch zu erzielen, ist ein stark interdisziplinärer Ansatz nötig. Die wissenschaftlich äußerst erfolgreiche Arbeit des Sonder­forschungs­bereichs in der ersten Förderperiode belegt, dass eine Zusammen­arbeit führender internationaler Expertinnen und Experten aus verschiedenen Fachdisziplinen nötig ist, um die ehrgeizigen Ziele des Programms zu erreichen. Die erneute Förderzusage der Deutschen Forschungs­gemeinschaft würdigt das bisher Erreichte und ermöglicht das Fortsetzen der fruchtbaren gemeinsamen Forschung“, erklärt Universitäts­präsident Ralph Bruder.

Im Sonderforschungs­bereich „Magnetrezeption“ arbeiten Forscher aus Neurobiologie, Quantenphysik, Biochemie, Computer-Modellierung und Verhaltens­biologie zusammen. Zentrales Ziel ist, den Magnetsinn von Wirbeltieren und ihre Navigations­fähigkeiten umfassend zu verstehen – angefangen bei bestimmten Proteinen, die das Magnetsignal detektieren, über Signalwege innerhalb von Nervenzellen und die Weiterleitung des Reizes ins Gehirn bis hin zum Verhalten und zu den Zugrouten der Tiere. Die gewonnenen Erkenntnisse sind wichtig, um bedrohte, über lange Strecken wandernde Tierarten schützen zu können. Die quanten­mechanischen Mechanismen, die dem Magnetsinn wahrscheinlich zugrunde liegen, könnten für die Entwicklung besserer Sensoren genutzt werden.

Denn die Forscher sind einem faszinierenden Mechanismus auf der Spur: Seit einigen Jahren verdichten sich die Hinweise, dass sich der Magnetsensor im Auge von Zugvögeln befindet. Die Sinneswahrnehmung beruht allem Anschein nach auf einem komplizierten quantenphysikalischen Prozess in bestimmten Zellen der Netzhaut. In der ersten Förderperiode gelang es einem Team um Mouritsen, mithilfe von Bakterienkulturen ein magnet­empfindliches Eiweiß aus der Netzhaut von Rotkehlchen zu produzieren, um daran Untersuchungen durchzuführen. „Wir konnten so zum ersten Mal zeigen, dass ein Molekül aus dem Sehapparat eines Zugvogels magnetisch sensitiv ist“, sagt Mouritsen.

Ein weiteres Highlight aus der ersten Förderperiode war die Erkenntnis eines Teams um den SFB-Teilprojekt­leiter Onur Güntürkün von der Universität Bochum, dass die Gehirne von Vögeln – insbesondere die für Sinneswahrnehmungen zuständigen Areale – denen von Säugetieren sehr viel ähnlicher sind als bislang angenommen. Das Team berichtete, dass die Nervenfasern im Vogelgehirn überraschend komplexe Strukturen bilden. Eine Studie beschriebt, wie Zugvögel bestimmte Koordinaten des Erdmagnetfelds wie ein Stoppschild nutzen. Das Team um Joe Wynn vom Institut für Vogel­forschung und Henrik Mouritsen hatte dafür Beringungsdaten aus einem Zeitraum von 1940 bis 2018 ausgewertet.

In weiteren Studien erzielten die Wissenschaftler unter anderem wichtige Fortschritte dabei, die biophysikalischen Prozesse der Magnet­wahrnehmung aufzuklären, die Weiterleitung des Magnetreizes in Nervenzellen im Auge von Vögeln zu untersuchen, die Auswirkungen von Elektro­smog auf das Zugverhalten von Vögeln in der Natur zu erforschen und herauszufinden, wie räumliche Informationen im Gehirn von Fledermäusen codiert werden.

In der zweiten Förderperiode stehen weitere Untersuchungen magnetisch empfindlicher Eiweiße auf dem Programm, die das Team mittlerweile gezielt in Zellkulturen herstellen kann. „Die Proteine mancher Tierarten sind magnetisch deutlich sensitiver als die von anderen Spezies“, erläutert Mouritsen. Das Team will diese Proteine gezielt verändern und sowohl experimentell als auch mithilfe von Computer­simulationen verstehen, welche Teile der Moleküle für die magnetische Wahrnehmung wichtig sind.

Ein Schwerpunkt mehrerer Teilprojekte des Programms soll außerdem auf der Verarbeitung der magnetischen Reize und anderer für die Navigation wichtiger Informationen im Gehirn liegen. Ein neues Teilprojekt, das vom Oldenburger Biologen Oliver Lindecke geleitet wird, untersucht das Zugverhalten und die Magnet­orientierung von Zwerg­fleder­mäusen, die auf ihren Wanderungen mehrere tausend Kilometer zurück­legen. Ebenfalls neu ist das Teilprojekt von Sandra Bouwhuis, der wissenschaftlichen Direktorin des Instituts für Vogelforschung. Es befasst sich mit der Frage, welchen Einfluss die Entscheidung, an einem bestimmten Ort zu überwintern, auf den Bruterfolg eines Zugvogels hat. Dabei kann die Forscherin auf Daten zahlreicher Individuen aus einer Kolonie von Flusssee­schwalben zurückgreifen, die teils seit mehreren Jahrzehnten beobachtet werden und deren Verwandtschafts­verhältnisse gut untersucht sind.

U. Oldenburg / DE

 

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