03.11.2021

Schichten schreiben Geschichte

Christina Diblitz, Schichten schreiben Geschichte, Logos Verlag, Berlin 2021, brosch, 302 Seiten, 48,50 Euro, ISBN 9783832552732

Christina Diblitz

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Als der Physiker und (theoretische) Elektrotechniker Károly Simonyi vor Jahrzehnten seine informative, attraktiv gestaltete und populär gewordene „Kulturgeschichte der Physik“1) ver­öffentlichte, wies er ohne Wertung aber mit wahrnehmbarer Sorge darauf hin, dass Wissenschaftshistoriker ihre eigenen Gedankengebäude mit eigener Sprache, eigenen Zeitschriften, Denkmodellen und Lehrstühlen errichtet hätten, und dass er sich laufbahnbedingt diesem Kreis und dessen Ansprüchen nicht zurechnen könne.

Der Terminus Kulturgeschichte war sein Synonym zur Abgrenzung von Wissenschaftsgeschichte. Der Wissen­schaftshistoriker Klaus Hentschel stellte 2018 die Frage, wie die Wissen­schaftsgeschichte damit umgehen solle, dass sie sich bei ihrer offenkundigen Spezialisierung von den (ehemals) praktizierenden Natur­wissenschaftlern abkoppelt.2) Verschiedene Sichten auf ein gemeinsames Objekt laufen Gefahr, sich aus dem Blick zu verlieren.

Der promovierten Naturwissen­schaftlerin Christine Diblitz gelingt mit der hier vorgestellten Studie erfolgreich der Brückenschlag – anhand einer speziellen, aber doch auch sehr integralen Thematik, der Materialherstellung in der Halbleitertechnologie, und ohne den Anspruch, die oben genannten Probleme grundsätzlich gelöst zu haben. Sie führt von den Anfängen einer festkörperbasierten Forschung zu heutigen Errungenschaften der Halbleiterforschung und -anwendung. Dabei nimmt sie Bezug auf die originalen Quellen, analysiert qualifiziert die Sekundärliteratur und bietet aktuelle anwendungsspezifische Beschreibungen. Christina Diblitz erhebt dabei durchaus den erkennbaren Anspruch auf weitgehende oder zumindest hinreichende Vollständigkeit.

Einleitend, wirksamer jedoch in den die historische Abfolge darstellenden Kapiteln, macht die Autorin die Leser:innen mit den philosophischen Modellen vertraut, die eine wissenschaftsgeschichtliche Interpretation dieser naturwissenschaftlichen/technischen Entwicklungsschritte erlauben. Die Umkehr des positivistischen Postulats vom Primat des Experiments vor der Theorie3) durch die Denkansätze des frühen 20. Jahrhunderts entspricht dem Empfinden der Leser:innen weitgehend.

Die Grenzen dieses „antipositivistischen“ Modells erweiterte erst Ende der 1980er-Jahre der Wissen­schaftshistoriker Peter Galison dadurch, dass er die Kategorie des Instruments ins Spiel brachte. Die Erweiterung dieses Systems durch die Autorin ist – getragen durch die nachfolgenden Entwicklungsschritte – konsequent: Sie fügt dem Tripel Experiment, Theorie und Instrument als vierte Kategorie das Material hinzu und entwickelt das Konzept des „epis­temisch-technischen Quartetts“. In den Wechselwirkungen, die innerhalb dieses Quartetts entstehen und sich mehr oder weniger stabil ausprägen, sieht die Autorin den jeweiligen Entwicklungsstand und die industrielle Wirksamkeit der Halbleiter-Materialforschung reflektiert. Folgerichtig erklärt sie anhand ihres Modells die für Deutschland spezifischen Defizite zwischen Forschungsstand und industriellem Engagement in der jüngeren Vergangenheit.

Die gründlichen Recherchen der Autorin machen den Leser mit den weltweit führenden (bzw. einst führenden) Akteuren, ihren Handlungen, Motiven und Ergebnissen bekannt, veranschaulicht mit einer bemerkenswerten Vielzahl von Interviews mit Zeitzeugen. Kritisch ist anzumerken, dass die Autorin die Aktivitäten östlich des Eisernen Vorhangs stiefmütterlich behandelt – abgesehen vom Herausstellen des Nobelpreisträgers Alferow. Das so gezeichnete Bild eines bedeutsamen Abschnitts Physikgeschichte ist sehr lesenswert; und zwar unabhängig vom Zugang – ob wissenschaftsgeschichtlich oder (im Sinne Simonyis) kulturgeschichtlich.

Prof. Dr. Günter Dörfel, Dresden

1) K. Simonyi, Kulturgeschichte der Physik – von den Anfängen bis 1990; Frankfurt a. Main 1995 (2. erg. Aufl.), frühere Versionen 1990 (Leipzig und Frankfurt a. Main), 1986, 1978 (Budapest). Die 3. erw. Aufl. 2001 (Frankfurt am Main) erschien im Sterbejahr Simonyis.
2)  K. Hentschel, Ber. Wissenschaftsgesch. 41, 367 (2018)
3) Letzteres bezieht sich z. B. auch auf die in diesem Kontext wichtigen Experimente von Ferdinand Braun mit Schwefelmetallen, die einen Gleich­richter­effekt erkennen ließen und das ohmsche
Gesetz infrage zu stellen schienen.

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