02.03.2022

Felix Klein

Renate Tobies: Felix Klein. Visions for Mathematics, Applications, and Education, Springer, Berlin 2021, XX+677 S., brosch., 53,49 Euro, ISBN 9783030757878

Renate Tobies

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Felix Klein (1849 – 1925) war über fünfzig Jahre lang einer der führenden Mathematiker, bekannt etwa durch sein „Erlanger Programm“, die Cayley-Klein-Metriken, die Kleinsche Flasche und die Kleinsche Vierer­gruppe. Seine „Allseitigkeit und Produktivität“ lobte Ludwig Boltzmann bereits 1892. Kleins visionäres Programm betraf nicht nur die reine Mathematik, sondern auch deren Anwendungen in Natur-, Technik- und Finanzwissenschaften. Die „Kleinsche Unterrichtsreform“ schloss naturwissenschaftlichen Experimentalunterricht ein.

Die ausgewiesene Mathematik­historikerin Renate Tobies entwirft in ihrem Opus Magnum ein detailliertes Bild des einflussreichen Forschers, den Max Born als „Großen Felix“ bezeichnete, der jedoch wiederholt bezweifelte, ob er den selbst gesteckten hohen Anforderungen genügen könne. Es gelingt der Autorin, uns das Bild eines „Weltbürgers“ nahe zu bringen, der Studierende aus aller Welt anzog, über 50 Personen (davon zwei Frauen) zur Promotion führte, Begabte unabhängig von Nation, Religion und Geschlecht förderte, aber auch im Vorfeld des Ersten Weltkrieges explizit „nationalen Chauvinismus“ verurteilte – entgegen manch überlieferter Behauptung. Gestützt auf ein langjähriges Quellenstudium widersteht Tobies der Gefahr, der von Klein durchaus betriebenen Selbstinszenierung zu verfallen, und bietet zahlreiche neue Einsichten zu Werk und Person.

Im Folgenden geht es vor allem um Astronomie, Physik und Technik, die Klein schon als Schüler interessierten und die er in Göttingen nachdrücklich förderte. An der Bonner Universität wurde er Vorlesungs­assistent bei Julius Plücker, der den Glasbläser und Instrumentenbauer Heinrich Geißler nach Bonn geholt hatte – für Klein ­eine Anregung, dass gute Universitäts­mechaniker wichtig für die experimentellen Wissenschaften sind. Bisher unbekannt: Klein löste 1868 eine von Plücker gestellte Preisaufgabe „Historisch-kritische Behandlung der Frage nach der Richtung der Schwingungen im polarisierten Lichte“; Kleins Auszeichnung erlebte Plücker nicht mehr. Somit fand Klein bei der Edition des zweiten Bandes von Plückers „Liniengeo­metrie“ sein Dissertationsthema und sah auch Bezüge zur geometrischen Optik und Mechanik. Klein kam wiederholt zur Optik zurück, lehrte das Gebiet als Privatdozent und erkannte unter anderem die Bedeutung der Hamiltonschen Arbeiten zur Optik für die Berechnung optischer Instrumente.

Weithin unbekannt war auch, dass Klein durch das Engagement des ­Physikers Eduard Riecke 1886 als Professor nach Göttingen gelangte – gegen den Wunsch der dortigen Mathematik-Professoren. Kleins Weg führte dazu, dass er Anwendungen nicht als „schmutzige“ Mathematik abtat – wie damals weit verbreitet –, sondern geradezu als Motor fungierte, um die Wechselwirkungen zu fördern. Als Professor an der TH München (1875 – 80) hatte Klein mit Carl (von) Linde einen Freund gewonnen, der später seine Idee zur Gründung des deutschlandweit ersten Universitätsinstituts für technische Physik (Göttingen 1895) unterstützte.

Überraschend neu ist die Tatsache, dass Klein bereits 1881 – nach herausragenden Ergebnissen in der „reinen“ Mathematik – nur noch in der Mechanik und der mathematischen Physik eigene originelle Ideen erwartete. Somit betrieb Klein „physikalische Mathematik“ – wie es Arnold Sommerfeld später ausdrückte, der sich unter Klein vom Mathematiker zum theoretischen Physiker entwickelte, indem er ausgehend von dessen Vorlesungen das Werk zur Kreiseltheorie verfasste.

Die Autorin zeigt, wie Klein zur Poten­tialtheorie arbeitete; den physi­kalischen Ansatz nutzte, um Riemanns Funktionentheorie zu vertiefen; später Probleme der Hydrodynamik und Baustatik mathematisch klassifizierte; sich mit Painlevés Kritik an den Coulombschen Reibungsgesetzen so auseinandersetzte, dass heute vom Painlevé-Klein-Problem gesprochen wird. Klein erfasste sofort Einsteins Spezielle Relativitätstheorie, ordnete sie in sein Erlanger Programm ein und inspirierte Arbeiten zu deren nichteuklidischer Interpretation. Als Einsteins und Hilberts Arbeiten zur Allgemeinen Relativitätstheorie vorlagen, erkannte Klein, dass es sich dabei nicht um eine Prio­ritätsfrage handelte. Ausgehend von Vorlesungen in den Jahren 1916 bis 1918 verfasste er substanzielle, von Einstein geschätzte Beiträge dazu, eng mit Emmy Noether kooperierend. Klein setzte Noethers Habilitationsverfahren erfolgreich in Gang und trat für die Anerkennung der Noether-Theoreme unter Physikern ein.

Tobies Biographie eignet sich nicht nur als Standardreferenz für Wissenschaftshistoriker:innen. Sie gibt auch Anregungen und Impulse für theoretisch Interessierte, damit im Kleinschen Sinne die Mathematik Bestandteil unserer Kultur und ein Instrument für den wissenschaftlichen Fortschritt bleibt.

Prof. Dr. Peter Bussemer,
Duale Hochschule Gera-Eisenach

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